Es ist eine Geschichte wie aus einem Märchenbuch: Ein italienischer Graf kauft das kleine Dörfchen Consonno auf einem Hügel in der Lombardei und verwandelt es in eine Vergnügungsstadt mit Restaurants, Ladenpassage, mittelalterlichem Burgtor und orientalischem Minarett. Allerdings läuft danach – anders als im Märchen – nicht alles glatt. Schon nach wenigen Jahren bleiben die Besucher aus, eine Naturkatastrophe besiegelt nach nur wenigen Jahren das Schicksal des „Europäischen Las Vegas“. Consonno verfällt und wird zu einer weithin bekannten Geisterstadt.
This post is also available in English. Mehr Artikel über Italien gibt es hier!
Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war Consonno nur ein kleines, auf einem Hügel etwa 15 Kilometer von Lecco am Comer See entfernt gelegenes Dorf. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten hier noch stolze 240 Einwohner, nach dem Krieg sank die Zahl auf knapp 50. In den 1950er Jahren konnten die ansässigen Handwerker und Bauern das Dorf gerade noch so am Leben erhalten.
Anfang der 1960er Jahre trat schließlich der exzentrische Grande Ufficiale Conte di Villa dell‘ Olmo Mario Bagno – oder kurz Graf Mario Bagno – auf den Plan. Er war mit seinem Bauunternehmen während des italienischen „Wirtschaftswunders“ in den 1950ern reich geworden und träumte von einer Vergnügungsstadt in der Nähe von Mailand. Consonno war dafür vermutlich aus mehreren Gründen interessant: Die Lage am Hang bot ein gutes Panorama über die umliegenden Berge, alle Grundstücke befanden sich im Besitz von nur zwei Familien, und von den wenigen Einwohnern war kein großer Widerstand zu erwarten. Am 8. Januar 1962 einigte sich Bagno mit den Famlien Anghileri und Verga auf den Verkauf von ganz Consonno zum Preis von 22,5 Millionen Italienische Lire. Das durchschnittliche Monatseinkommen eines Arbeiters lag damals bei ca. 50.000 Lire.
Kurz nach dem Kauf wurde eine neue Straße gebaut und die Planierraupen gingen ans Werk. Nach und nach wurden alle Häuser und Wege zerstört und die meisten Einwohner verließen den Ort. Zum Schluss blieben nur die kleine Kirche Chiesa San Maurizio, das Pfarrhaus und der winzige Friedhof erhalten. An Stelle der Wohnhäuser entstanden bis 1967 das Plaza Hotel, mehrere Restaurants, das Tanzlokal Salone delle Feste, ein mittelalterliches Burgtor, eine Ladenpassage mit Arkaden und dem bekannten „orientalischen Minarett“, und eine Schießanlage auf dem „Monte Mario“. Die Gebäude waren im Stil verschiedener Epochen und Erdteile gehalten. Ein „Touristenzug“ kutschierte die Besucher von Attraktion zu Attraktion. Angeblich investierte Bagno mehr als 60 Millionen Lire.
Das vom Grafen entwickelte Konzept war in den ersten Jahren sehr erfolgreich. Berühmte Persönlichkeiten kamen regelmäßig zu Besuch und im Tanzlokal traten bekannte Stars auf. Bagno sorgte auch immer wieder für besondere Ereignisse wie Radrennen (z.B. der Circuito di Consonno am 11. August 1967) und Motorradrennen (mindestens zwei Rennen in den Jahren 1975 und 1976).
Aber Graf Bagno hatte noch viele große Pläne für neue Attraktionen in Consonno. Neben Sportplätzen für Fußball, Basketball, Tennis und Boccia, einem Golfplatz, einer Eislaufbahn, einem Vergnügungspark und einem Zoo stand sogar ein Autodrom auf der Liste. Allerdings ließ der Besucherstrom schon Mitte der 1970er wieder nach. 1976 zerstörte ein Erdrutsch die Hauptstraße, und im Gegensatz zu früheren Vorfällen dieser Art wollte Bagno nicht mehr alleine für die Kosten für die Reparatur aufkommen. Der Streit mit der Gemeindeverwaltung zog sich über vier Jahre, erst 1981 wurde die Straße repariert – auf Kosten von Bagno. Zu diesem Zeitpunkt stand das Schicksal von Consonno allerdings schon fest. Die Gebäude befanden sich bereits in einem desolaten Zustand, Bewohner und Geschäftsleute verließen den Ort.
Bagno, mittlerweile über achtzig Jahre alt, ließ in den Achtzigern im ehemaligen Grand Hotel ein Pflegeheim einrichten. Er starb 1995 im Alter von 94 Jahren. Das Pflegeheim schloß im Jahr 2007 endgültig seine Pforten, kurz darauf wurden während eines dreitägigen Techno-Raves viele der Gebäude beschädigt. Damit wurde jede Hoffnung auf eine Rückkehr des ehemaligen „Europäischen Las Vegas“ endgültig begraben. Alle Versuche, das Areal dauerhaft einer anderen Nutzung zuzuführen oder zu verkaufen, scheiterten bislang. 2014 versuchten Bagnos Erben Consonno für 12 Millionen Euro zu verkaufen. Zwischen 2012 und 2019 betrieb eine Gruppe Freiwilliger an den Sommerwochenenden das Ausflugslokal Bar de la Spinada für Wanderer, Mountainbiker und Motorradfahrer.
Eine direkte Anfahrt mit dem Auto ist nur zwischen Ostern und Oktober an Sonntagen zwischen 10:00 und 12:00 Uhr möglich, wenn die Schlagbäume für den Besuch der Chiesa San Maurizio geöffnet werden. Zu jedem anderen Zeitpunkt muss man mindestens einen Kilometer zu Fuß nach oben wandern.
Auf der Straße von Olginate nach Consonno kommt man zuerst an der Ruine des Panoramarestaurants „Il Pavesino“ vorbei. Der Bau wurde nie fertiggstellt.
Eine häufig fotografierte Besonderheit von Consonno sind die Schilder mit den Schriftzügen an der Zugangsstraße. Es gibt sie in vier verschiedenen Varianten: „Qui a Consonno tutto è meraviglioso“ („Hier in Consonno ist alles wunderbar“), „Consonno è il paese piú piccolo e piú bello del mondo“ („Consonno ist das kleinste und schönste Dorf der Welt“), „Chi vive a Consonno campa di più“ („Wer in Consonno lebt, lebt länger“) und „A Consonno è sempre festa“ („In Consonno wird immer gefeiert“). Wahrscheinlich hat es sich für die vielen Besucher wirklich so angefühlt, anders ist wohl kaum zu erklären, warum tausende Menschen immer wieder an diesen Ort mitten im Wald kamen.
Die Spitze des Minarettes ist schon von der Zufahrtsstraße aus sichtbar. Das in mittelalterlichem Stil gehaltene Zugangstor an der Straße existiert nicht mehr. Angeblich musste dort zumindest an einigen Tagen in der Woche eine Art Eintrittsgeld bezahlt werden, es könnte aber auch sein, dass es sich dabei nur um eine Parkgebühr handelte.
Die kleine Chiesa San Maurizio und das Pfarrhaus stehen noch an ihrer ursprünglichen Stelle am Ende der Straße, etwas abseits von den anderen Gebäuden. Heute finden nur noch zu Ostern oder an anderen hohen Feiertagen Gottesdienste statt. 2008 und 2014 wurden auch kleine Volksfeste im Gedenken an das alte Consonno von vor 1962 veranstaltet.
Zwischen dem Eingangsplatz und der Ladenpassage liegen die Ruinen des Salone delle Feste. Hier befanden sich früher Cafés, Restaurants und Bühnen für Musik-, Tanz- und Varietévorstellungen. Heute ist davon kaum mehr etwas übrig. Selbst die Außenmauern sind nicht mehr vollständig vorhanden, von den Dächern und der Innenausstattung ganz zu schweigen.
Das markanteste und am häufigsten fotografierte Gebäude ist die dreistöckige Ladenpassage mit den Arkaden und Terrassen sowie dem Minarett auf dem Dach.
Das 30 Meter hohe Minarett und die Kuppel befinden sich auf dem Dach des Gebäudes. Vermutlich fanden auf der Dachterrasse früher auch Feste und Konzerte statt.
Die Treppen und Leitern an der Kuppel und im Minarett sind entfernt worden, es war also nicht mehr möglich auf sichere Art und Weise nach oben zu gelangen. Als ich am Minarett ankam, kletterten gerade einige Jugendliche über eine aus Zaungittern und Rohren improvisierte „Leiter“ nach unten. Auf jeden Fall nicht zu empfehlen!
Unterhalb der Dachterrasse befanden sich einige Wohnungen, vermutlich für Bedienstete und Künstler auf Tour.
Im ersten Stock befanden sich früher die Ladengeschäfte und andere Einrichtungen. Leider konnte ich nicht herausfinden, was genau hier verkauft wurde. Einige ehemalige Gäste haben ihre Erinnerungen im Internet verewigt, demnach gab es in den Geschäften „einfach alles, wirklich alles“. Zu Beginn der 1970er Jahre sollen hier Menschenmassen ähnlich wie an den Strandpromenaden von Rimini unterwegs gewesen sein.
Im Erdgeschoss befanden sich weitere Geschäfte. Den Berichten zufolge gab es hier hauptsächlich Kinderspielzeug und Süßigkeiten.
Die Geschäfte im Erdgeschoss waren meist zweistöckig. Allerdings kann ich mir nicht ganz vorstellen, dass diese schmalen Treppen für die Kundschaft vorgesehen gewesen sein sollen. Vermutlich wurden die Obergeschosse eher als Lagerräume benutzt?
Auf der Westseite der Ladenpassage befand sich ein Restaurant mit großem Speisesaal.
Consonno war bis zum Schluss eine Baustelle. Hinter der Ladenpassage stehen die Überreste eines großen Betonmischers und einige Pfeiler einer Baustelle für ein unbekanntes Gebäude.
Neben der verlassenen Baustelle stehen die Überreste eines Werkstattgebäudes und eines alten LKWs. Der LKW soll zu Mario Bagnos Bauunternehmen gehört haben, das Wrack steht bereits seit Jahrzehnten an der gleichen Stelle.
In der alten Werkstatt befanden sich noch einige Maschinen, darunter eine Hobelbank und eine Tischkreissäge.
Der mit Abstand surrealste Ort auf dem ganzen Gelände ist sicherlich der ehemalige Park mit dem See, den Wasserspielen und den römischen Säulen direkt vor der Ladenpassage. Wie auf den Luftbildern und Fotos aus den 1970ern zu sehen ist, gab es damals an dieser Stelle keine Bäume. Mittlerweile ist das komplette Areal aber dermaßen überwuchert, dass man den Originalzustand nur noch mit viel Phantasie erahnen kann.
Fazit: Nach jahrzehntelangem Vandalismus kann man nur noch mit Mühe erahnen, was sich an diesem wunderbaren Ort früher einmal alles abgespielt haben muss. Die einzigartige Architektur und Geschichte sind aber durchaus eine Reise wert 🙂 Mehr Lost Places gibt es in der entsprechenden Kategorie.
Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.