Zur Abwechselung muss ich mal kein Geheimnis um die genaue Position eines Lost Places machen, denn das verlassene Kraftwerk von Fier ist weder zu übersehen noch zu verfehlen. Im Prinzip muss man immer nur der Nase nach, denn eines ist sicher: Wer das rohe Erdöl nicht gerochen hat, war nicht in Fier.
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Der Einleitungsartikel zu Albanien befindet sich hier.
Schon vor Christi Geburt waren den Griechen die Ölvorkommen nahe Fier bekannt. Asphaltbrocken wurden aus der Erde gegraben und in den Feuerstellen verbrannt. Seit den 1930er Jahren wird Erdöl hier industriell gefördert. Wer die typischen Tiefpumpen mit den „nickenden“ Balken einmal selbst sehen möchte, muss also nicht gleich nach Texas – in Fier findet man sie links und rechts der Hauptstraßen.
Während der Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg stieg Fier zu einer der wichtigsten Städte Albaniens auf. Industriebetriebe und eine Raffinerie wurden angesiedelt. In den 1960ern kamen ein gigantisches Dampfkraftwerk (Termocentrali i Fierit) der Korporata Elektroenergjitike Shqiptare (Albanische Elektroenergiegesellschaft, KESH) und eine Düngemittelfabrik hinzu.
Das mit Öl befeuerte Dampfkraftwerk war mit einer Leistung von 186 Megawatt das größte Heizkraftwerk Albaniens. Das schwere Heizöl für die Brennkammern kam aus der benachbarten Raffinerie. Um die Jahrtausendwende war das Kraftwerk aber kaum noch in Betrieb, zuletzt wurden im Mittel nur noch etwa 20 statt 186 Megawatt erzeugt. 2007 wurde es endgültig abgeschaltet und das gesamte Areal für den symbolischen Preis von einem Euro an eine griechische Investorengruppe verkauft.
Eigentlich sollte bereits 2009 mit der Erzeugung von Strom aus Erneuerbaren Energieträgern begonnen werden. Aber dann schlug die Finanzkrise zu, und daraus wurde nichts. Seitdem verfallen die Anlagen immer weiter. Vor einigen Jahren gab es wohl noch mehr zu sehen, aber mittlerweile hatte man wohl auch die letzten Metallreste verkauft und so einige Hallen abgerissen.
Am Südende der eineinhalb Quadratkilometer großen Anlage lag noch nicht alles brach. Die 220-Kilovolt-Verteilerstation war noch in Betrieb. Die alte Raffinerie auf der anderen Seite der Straße funktionierte immer noch, ständig fuhren Tanklaster daran vorbei. Einige kleinere Unternehmen hatten sich in einigen Nebengebäuden niedergelassen. Vor einem kleinen Restaurant saßen Arbeiter in der Sonne und rauchten.
Niemand versuchte uns aufzuhalten, als wir in Richtung der riesigen Kühltürme marschierten. Warum auch. In Albanien kümmern sich die Menschen eher selten um Dinge, für welche sie nicht direkt verantwortlich sind – und für die Betonruinen fühlte sich offensichtlich keiner der Anwesenden zuständig.
Das Kraftwerk
Insgesamt sieben große Kühltürme befanden sich noch auf dem Gelände. Drei standen direkt neben dem alten Kraftwerk, vier weitere verteilt über das restliche Areal.
Das eigentliche Kraftwerksgelände auf der Südseite lag leider unerreichbar vor uns. Wir hatten uns schon ziemlich nahe herangearbeitet, aber ein Zaun versperrte den Weg, und von der anderen Seite war lautes Hundegebell zu hören. Vermutlich gehörten die Hunde zu den Wachleuten, welche die noch im Betrieb befindliche Hochspannungs-Verteilerstation bewachten.
In diesem Gebäude befinden (oder befanden?) sich die Überreste der sechs Heizkessel. Fünf kleinere mit 12 bis 25 Megawatt Leistung stamm(t)en aus chinesischer Fertigung, ein großer mit 60 Megawatt aus Tschechien.
Wir gingen weiter in Richtung Norden, vorbei an endlosen Ruinen von Gebäuden mit uns unbekannter Funktion.
Manche der kleinere Gebäude schienen von Obdachlosen bewohnt zu sein. Gesehen haben wir zwar niemanden, aber doch den einen oder anderen Hinweis gefunden.
Die Düngemittelfabrik
Auf der Nordseite des Geländes befand sich die Kunstdüngerfabrik. Die Produktion begann 1966 mit dem Bau einer einzelnen Produktionslinie für Ammoniumnitrat, angeliefert aus Italien. 1976 kam eine Zweite hinzu, 1990 eine Dritte, beide aus chinesischer Fertigung und auf Harnstoffdünger ausgelegt. Albanien bezahlte die teuren Anlagen nicht mit Devisen, sondern mit Rohstoffen. China beispielsweise ließ sich in Bitumen bezahlen.
Die Fabrik hatte eine eigene Zufahrt mit Wachhäuschen und Tor. Vermutlich fuhren die LKWs hier auf das Gelände und wurden dann an den Gebäuden mit den „flügelförmigen“ Dächern beladen. Das auffälligste Bauwerk war auf jeden Fall der große Absorptionsturm.
Es war kein Zufall, dass die Fabrik genau hier errichtet wurde. Zur Herstellung von Kunstdünger braucht man vor allem zwei Dinge: Erdgas und Prozesswärme in Form von heißem Wasserdampf. Das eine kam aus der Erdölraffinerie wenige Hundert Meter weiter. Das andere aus dem Dampfkraftwerk.
An der Form der Bauwerke lässt sich deren Funktion erahnen. Für Ammoniumnitrat benötigt man beispielsweise zwei Grundzutaten, Salpetersäure und Ammoniak. Salpetersäure wird aus Erdgas gewonnen, indem man in einem Zwischenschritt Stickstoffmonoxid herstellt, dieses in einem Sprühwäscherturm mit Wasser zu Salpetersäure reagieren lässt und den Kreislauf so lange zirkuliert, bis die Konzentration hoch genug ist. Üblicherweise haben diese Sprühwäschertürme vier bis fünf Ebenen. Das Betongerippe neben dem Turm hat zufälligerweise auch fünf Ebenen. Könnte also hinkommen.
Die hochkonzentrierte Salpetersäure wird dann ausgeleitet und reagiert in einem Absorptionsturm mit Ammoniak zu einer Ammonitiumnitratlösung. Dieser Absorptionsturm war ja wohl kaum zu übersehen. Und auch der letzte Schritt, das Verdampfen, Auskristallisieren und Verpacken der fertigen Düngerkügelchen in einer großen Halle, schien hier stattgefunden zu haben.
Der Turm sah von außen schon sehr beeindruckend aus, aber von innen erst recht. Eine baufällige Treppe führte bis ganz nach oben. In älteren Berichten von vor einigen Jahren waren die Besucher teilweise noch bis ganz nach oben geklettert. Heute kann ich das allerdings nicht mehr empfehlen!
An der Unterseite des Turms mündete eine Öffnung in einen langen Tunnel mit einer Treppe. Vermutlich wurde die Ammoniumnitratlösung durch eine Rohrleitung im Tunnel zu einer der Verarbeitungshallen transportiert. Von außen konnte man auch sehen, dass der Tunnel tatsächlich zu einer dieser Hallen führte.
In den langen Hallen waren vermutlich früher die Produktionslinien untergebracht. Allerdings existierten nur noch zwei davon, eigentlich hätten es drei sein müssen.
In den Produktionshallen wurde die flüssige Ammoniumnitratlösung in beheizten Pfannen auf 300 Grad Celsius erhitzt, umgerührt und langsam auskristallisiert. Es bildete sich das tpyische Kunstdüngergranulat, welches auch heute noch in der Landwirtschaft und in den meisten Gärten verwendet wird. Im letzten Arbeitsschritt wurde vermutlich noch eine schützende Beschichtung aufgetragen.
Zu Spitzenzeiten liefen bis zu 1.000 Tonnen Dünger pro Tag vom Band. 1993 arbeiteten noch über 900 Menschen in der Düngemittelfabrik. Allerdings fehlte es zunehmend am Hauptrohstoff, Erdgas, und an Ersatzteilen. Ab den 1990er Jahren war Albanien immer stärker auf Kunstdünger aus dem Ausland angewiesen.
Was wohl in diesen runden Gebäuden vor sich ging? Vielleicht wurde hier der frisch hergestellte Kunstdünger zwischengelagert?
Auf dem Betonsockel in der Mitte könnte sich vielleicht eine Art Kran befunden haben, und in einem großen Haufen darum herum das Kunstdüngergranulat. Ähnliche Konstruktionen sieht man auch häufig in Kiesgruben. Aber mehr als eine schwache Vermutung ist das nicht.
Das Labor
In einem großen Gebäude ganz im Nordwesten waren Labors und Verwaltungsbüros untergebracht gewesen. Hier waren die Abrissarbeiten noch nicht ganz so weit vorangeschritten, und es gab noch so einige Schätze zu entdecken 😯
Die Inneneinrichtung war schon lange verschwunden, aber überall lagen noch haufenweise alte Dokumente auf dem Boden herum. Offensichtlich hatte hier jemand auf der Suche nach etwas Wertvollem das Archiv geplündert.
Neben Handbüchern für elektronische Messinstrumente waren auch viele Laboraufzeichnungen dabei. Die Datumsangaben auf den Papieren reichten teilweise bis ins Jahr 1990 zurück, also dem Zeitpunkt, als die dritte Produktionslinie gerade erst aufgebaut worden war.
Die Gasmasken im Labor kann ich ja noch verstehen. Aber was hatte es wohl mit den ganzen Schuhen auf sich?
Auf dem Fensterbrett des Laborraums standen noch zwei Glasflaschen mit Thiophen und Formaldehyd. Das eine leicht entzündlich, das andere giftig und ätzend. Schwarze Flecken auf dem Boden deuteten darauf hin, dass wohl schon so einiges verschüttet worden war und miteinander reagiert hatte. Einer der vielen Gründe, warum man in solchen Lost Places immer vorsichtig sein und nichts anfassen sollte…
Neben dem Labor- und Verwaltungsgebäude befand sich das Letzte noch halbwegs intakte Bauwerk: der gigantische Rückkühler. Bei der Herstellung von Kunstdünger wird sehr viel Energie freigesetzt. Die Türme, Reaktoren und Produktionslinien müssen ständig gekühlt werden. Aus der Größe der Rückkühler schließe ich, dass die Kühlleistung bei mehreren Megawatt gelegen haben muss.
Das Kraftwerk und die Kunstdüngerfabrik existieren vielleicht nicht mehr, aber die Stadt Fier wird auch weiterhin mit Erdöl und Gas verbunden bleiben. Seit 2015 wird an der Trans-Adria-Pipeline gebaut, welche die Türkei über Griechenland und Albanien mit Süditalien verbinden wird. Nach der Fertigstellung im Jahr 2020 kann Europa dann sogar mit Erdgas aus dem fernen Aserbaidschan versorgt werden. Fier nimmt in diesem Projekt eine zentrale Rolle ein. Ein großer Gasspeicher in der Stadt soll bei Lieferengpässen und Unterbrechungen als Puffer dienen.
Im nächsten Artikel geht es weiter in den schönsten Teil von Albanien: den Süden. Dort finden wir Berge, das Mittelmeer, Strände, Sonnenuntergänge, verlassene Bergdörfer und vieles mehr… 🙂
Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.
Ein paar Mal waren wir schon mit dem Wohnmobil in Albanien, aber von dem Kraftwerk hatte ich noch nichts gehört. Als Lost Place Fan ärgere mich jetzt, weil ich in der Nähe unterwegs war. Aber das Teil wird noch länger stehen und kommt dann beim nächsten Mal dran.