In den Katakomben von Odessa

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Odessa hat auf den ersten Blick nicht viele „echte“ Attraktionen, aber es gab ja doch so einiges zu sehen. Die Flaniermeile entlang der Deribasiwska-Hauptstraße, der Vergnügungspark, die Potemkinsche Treppe und der Hafen boten genug Interessantes für den ersten Tag. Und danach haben wir uns erst mal an den Strand gelegt.

Aber die größte Attraktion der Stadt befindet sich nicht an der Oberfläche. Viele Touristen werden sie gar nicht zu Gesicht bekommen, denn sie wird kaum beworben, schon gar nicht auf Englisch. Willkommen in den Katakomben von Odessa 🙂

Wissenswertes

Als Katharina die Große 1794 den Bau der Stadt Odessa und eines großen Hafens befahl, gab es ein klitzekleines Problem: Es fehlte an Baumaterial. In der Umgebung gibt es keine Hügel oder Berge. In der Verzweiflung grub man den weichen Kalkstein aus dem Boden unter der Stadt, Tonne um Tonne, Tunnel um Tunnel. Ein etwa 2.500 Kilometer langes, mehrstöckiges Tunnelnetz soll dabei enstanden sein. Die größten Katakomben der Welt. Bis heute existiert keine vollständige Karte, obwohl furchtlose Abenteurer immer wieder zu mehrtägigen Expeditionen in den Untergrund aufbrechen.

Besonders während der Kriminalitätswelle gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Katakomben auch von Schmugglern und Gangstern benutzt. Der berühmte Gangsterboss Mishka Yaponchik (Ми́шка Япо́нчик) etwa soll der Polizei in den Tunneln mehrfach entwischt sein. Während des Zweiten Weltkrieges versteckten sich hier Partisanen und leisteten Widerstand gegen die Deutschen.

Zutritt

Es gibt vier Wege in die Tunnel:

Wir haben die geführte Tour im Museum „Unterirdische Geheimnisse von Odessa“ mitgemacht und auch einen der wilden Eingänge gefunden. Natürlich ist die Museumsführung etwas weniger authentisch. Aber man braucht für die wilden Tunnel sowieso einen Führer (alleine ist es viel zu gefährlich), und die wilden Eingänge liegen nicht unbedingt in Stadtnähe. Wirklich besser, günstiger oder schneller geht es abseits von den Museen also nicht.

Außerdem muss man in den wilden Tunneln immer damit rechnen, auf Müll oder andere Hinterlassenschaften von Menschen oder Tieren zu stoßen :/

Geführte Tour im Museum „Unterirdische Geheimnisse von Odessa“

Unsere Hotelrezeptionistin hat für uns beim Museum angerufen und eine private Führung auf Englisch ausgehandelt. Für die drei Stunden inklusive Leihausrüstung (Helm und Taschenlampe) bezahlten wir 750 Hrywnja pro Person, knapp 25 Euro. Ein Schnäppchen!

Vika, unsere Führerin für den Tag, begrüßte uns am unscheinbaren Eingang zwischen einer Polizeikaserne und einer Bank. Nach einer kurzen Helmprobe und Einweisung ging es dann direkt über eine Treppe hinunter in die Unterwelt. Die meisten Tunnel liegen in einer Tiefe von etwa 12 bis 20 Metern. Es ist feucht, teilweise recht eng und schmutzig, und das ganze Jahr über etwa 15 Grad kalt. Passende Kleidung und Schuhwerk sind daher Pflicht.

Begonnen hatte alles mit dem Abbau des Kalksteins für die Baustellen. Zu Beginn wurden die Ziegel noch mit Handsägen aus dem Stein geschnitten, später mit mit mechanischen Bohrern und Sägen. Harte Knocharbeit! Vor einigen Jahren wurde der Kalksteinabbau an einigen Stellen wieder aufgenommen, das Tunnelnetz wächst also derzeit wieder.

Die beim Kalkabbau enstandenen Tunnel ziehen sich endlos durch den Untergrund. Ohne Vika hätten wir wahrscheinlich schon nach wenigen Hundert Metern komplett die Orientierung verloren.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts stellten die vielen Tunnel eine Gefahr für Gebäude und Bauarbeiten an der Oberfläche dar. Sowjetische Geologen und Arbeiter mussten an vielen Stellen zusätzliche Mauern errichten, um Einstürze zu verhindern.

Ein Teil der Ausstellung befasste sich mit dem Schicksal der Partisanen im Zweiten Weltkrieg. Während oben die Deutschen marschierten, ging der Widerstand im Untergrund weiter. Schlafsäle, Lazarette, Küchen, Druckereien für Flugblätter – alles wanderte in die Katakomben. Auch heute noch werden immer wieder Artefakte von damals gefunden, auch wenn die Feuchtigkeit das Metall stark angegriffen hat.

Die unbekannten Minenarbeiter und Partisanen haben so einige Kunstwerke in den Tunneln hinterlassen. Dazu gehört etwa auch diese schöne Darstellung des Untergangs der Titanic im Jahr 1912.

Während der Weltkriege und während des Kalten Krieges dienten die Katakomben auch als Schutzbunker. Aus dieser Zeit waren noch viele Artefakte wie Notfallpläne, Gasmasken, Geigerzähler und medizinisches Gerät erhalten.

Wir waren sehr überrascht von all dem, was wir unterwegs zu sehen bekamen. Manches war sicher mal ein „echter“ Bunker gewesen, anderes wirkte eher wie ein Keller mit Anschluss an die Katakomben, oder wie ein später gebauter Versorgungstunnel. Welcher Teil des Tunnelnetzes wann genau und für welchen Zweck gebaut wurde, lässt sich heute wohl oft nicht mehr sagen. Die systematische Erforschung durch die Hobbyforscher begann erst in den 1960er Jahren.

Mehr Tunnel, mehr Türen, hinter jeder Ecke etwas Neues. Endlos schien es so weiter zu gehen. Gefühlt waren wir schon den ganzen Tag unterwegs, tatsächlich war es erst eine Stunde. Langsam bekamen wir ein Gefühl dafür, welche Ausmaße das Tunnelsystem wirklich hatte und wie leicht man hier verschwinden konnte. Immer wieder geistern Schauermärchen von Menschen durch das Internet, welche nicht mehr aus den Katakomben von Odessa zurückgekehrt sein sollen.

Eigentlich sei sie ja Architekturstudentin und keine Fremdenführerin, so erzählte uns Vika. Aber die Katakomben wären schon seit Jahren ihre wahre Leidenschaft. Anders hätte man ihr perfektes Orientierungsvermögen unter Tage wohl auch kaum erklären können.

Mit zunehmender Tiefe kam das Grundwasser. „Super Mario“ nennen die Hobby-Tunnelforscher diesen Gang – früher musste man wie im Computerspiel von Stein zu Stein hüpfen, falls man trocken auf der anderen Seite ankommen wollte. Mittlerweile nahmen einige Holzbretter den Besuchern die Plackerei ab. Aber schon wenige Meter weiter drohten bei einem Sturz in den Kanal wieder mehr als nur nasse Füße.

Teile des Tunnelnetzes stehen auch ganz unter Wasser, besonders dort wo die künstlich angelegten Gänge an natürliche Höhlen anschließen. Das Wasser ist dort absolut klar und hat das ganze Jahr über etwa 14 Grad. Manchmal wird hier unten sogar gebadet. Wir saßen eine Weile an einem „Untergrundstrand“ auf einigen großen Steinen und knipsten dann die Taschenlampen aus. Absolute Dunkelheit. Absolute Stille. 20 Meter unter der Erde, ohne jedes Gefühl für Raum und Zeit. Nicht einmal ein Geruch lag in der Luft. Der Kalkstein reinigte einfach alles.

„Die Luft hier ist so sauber, eure Nase hat sich daran gewöhnt. Wenn ihr wieder nach wieder nach oben kommt, wird erst mal alles zwei Stunden lang stinken“ warnte uns Vika. „Die Stadt. Die Menschen. Ihr selbst, einfach alles. Wundert euch nicht.“

Zimperlich sein oder eine empfindliche Nase haben darf man auf dieser Tour aber sowieso nicht. Es ist nicht nur kalt, feucht, dreckig, gruselig und teilweise körperlich anstrengend. Manches, was unter Odessa schlummert, ist auch eine Zumutung für die Geruchsnerven. So ein unterirdischer Bunker braucht schließlich auch Toiletten, und diese hier waren wohl sogar noch in Benutzung… 😯

Das Museum organisiert auch Kinderfreizeiten in den Katakomben. Wer bei dem Gedanken daran die Augenbrauen hebt, den kann ich aber beruhigen: Ukrainische Kinder scheinen etwas härter im Nehmen zu sein. Ein bisschen verrostetes Metall in einem verlassenen Tunnel reicht nicht, es muss schon etwas mehr sein. Blut, Gebeine, Messer, Gasmasken, eingemauerte Arme und so weiter… 😉

Ob die Kinder nicht mit Albträumen nach Hause gehen würden, wollten wir wissen? Unsere Führerin konnte über diese Frage nur lachen. Nein, die Kinder würden es lieben. Man veranstalte hier unten manchmal ganze Horrorausflüge oder sogar Horror-Paintball-Schlachten.

Am Ende der Tour kehrten wir noch kurz im Museumsrestaurant ein. Ein wirklich schöner Veranstaltungsort für geschlossene Feiern! Der Raum liegt bequemerweise nicht wirklich weit vom Eingang entfernt, so dass Essen und Getränke nicht über weite Strecken transportiert werden müssen.

Das Museum bietet neben den Touren auch ganzjährig besondere Veranstaltungen an. Dazu gehören etwa Übernachtungen in den Tunneln, Forschungsmissionen, Aufräumaktionen und vieles mehr.

Allein in den wilden Tunneln

Mit den richtigen Suchbegriffen stößt man im Internet schnell auf die GPS-Koordinaten einiger wilder Eingänge. Natürlich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und habe mich auch ein Stück weit hineingewagt. Empfehlen kann ich das allerdings wirklich nicht. Schon nach viel zu wenigen Metern lässt die Orientierung nach – alles sieht gleich aus und verliert sich im Dunkeln, selbst mit einer starken Lampe in der Hand. Außerdem waren an manchen Stellen offensichtlich erst vor kurzem Steine von der Decke gebrochen.

Mit diesem Artikel verabschiede ich mich aus der Ukraine. Tschernobyl, Stalin-Tunnel, Atomraketen und Katakomben – was für ein Trip! Mal sehen, ob die nächsten Länder da noch mithalten können… 😉

Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.

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