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Irgendwo auf einem Feld im Nirgendwo in der Ukraine 🇺🇦. Das Gelände ist mit Stacheldraht umzäunt, gerade sind wir noch an einem Atomraketensilo vorbeigelaufen. Jetzt stehen wir unter der Erde in einem langen Gang, vollgestopft mit Kabeln, Ventilationsschächten und anderer Technik. Der ukrainische Führer öffnet einige Metalltüren und lässt uns in den Kommandobunker. Noch mehr Kabel, noch mehr Technik. Mit einem winzigen Aufzug geht es weiter abwärts, in eine Tiefe von 30 Metern.
Die letzte Metalltür wird geöffnet. Wir nehmen an den Konsolen Platz, warten auf das Kommando und drehen gleichzeitig unsere Kommandoschlüssel um. An der Wand befindet sich eine große Anzeige, welche den Status derzehn mit unserer Kommandozentrale verbundenen Atomraketen anzeigt. Eine Rakete nach der anderen leuchtet auf und signalisiert einen erfolgreichen Abschuss. Wir haben es getan. Der Globale Thermonuklear Atomkrieg ist nicht mehr aufzuhalten. Wir haben genug Lebensmittel für 45 Tage in unserem Bunker, aber der Rest der Welt hat jetzt einen sehr, sehr schlechten Tag.
Glücklicherweise war es nur eine Simulation. An der Oberfläche scheint immer noch die Sonne.
Geschichte
Nach der Auflösung der Sowjetunion saß die Ukraine auf etwa einem Drittel des ehemaligen sowjetischen Atomarsenals. Damit war das Land plötzlich die drittgrößte Atommacht der Welt, noch vor China. Alleine 130 UR-100N/SS-19 „Stiletto“ und 46 RT-23/SS-24 „Molodets“ Interkontinentalraketen sowie 33 schwere Bomber verblieben auf ukrainischem Boden. Das einzige, was die Ukrainer davon abhielt, die Waffen auch einzusetzen, war die Tatsache, dass nur die Russen über die Abschusscodes verfügten.
1994 stimmte die Ukraine zu, alle Atomwaffen aus dem Land zu entfernen und dem Abkommen zur Nichtverbreitung von Nuklearwaffen (Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT) beizutreten. 40 unteriridische Raketensilos für RT-23-Interkontinentalraketen waren rund um die Stadt Pervomaisk (Первома́йск) im Oblast Mykolaiv installiert worden, dem Sitz des 46. Raketenbataillons der 43. Strategischen Raketenartilleriebrigade der Roten Armee. Die Silos waren im gesamten Gebiet verstreut und oft mitten auf Feldern angelegt worden. Jeweils neun bis zwölf Silos waren mit einer gemeinsamen unterirdischen Kommandozentrale, einem sogenannten Unified Command Post (UCP), verbunden.
Zwischen 1994 und 1997 wurden alle Silos rund um Pervomaisk deaktiviert und die Raketen nach Russland zurückgebracht. 30 der 40 Silos wurden mit Hilfe ausländischer Experten zerstört. Eine der Kommandozentralen in der Nähe des kleinen Ortes Pobuzke wurde in das Museum der Strategischen Raketenstreitkräfte (Музей Ракетних військ стратегічного призначення) umgewandelt. Das Museum wurde am 30. Oktober 2001 eröffnet und gehört heute zum Nationalen Museum für Militärgeschichte in Kiew.
Anfahrt, Öffnungszeiten, Tickets
Das Museum befindet sich auf halbem Weg zwischen Kiew und Odessa, etwa 45 Kilometer von der Kreuzung zwischen der Autobahn M-05 und der Hauptstraße H-24 entfernt. Wenn ihr auf der H-24 in Richtung Pervomaisk unterwegs seid und rechts das große Ferronickel-Kombinat von Pobuzke mit den rauchenden Schloten seht, seid ihr in der Nähe der Abzweigung zum Museum. Die Fahrt dauert von Kiew oder Odessa aus jeweils etwa drei Stunden.
Die Installation besteht aus mehreren Teilen:
- Ausstellungsraum und Freifläche
- 155 Meter Tunnel zwischen den oberirdischen Gebäuden und der Kommandozentrale
- Die unterirdische Kommandozentrale
- Ein RT-23/SS-24-Raketensilo
- Eine ausfahrbare Antenne
- Ein Gebäude für die Stromversorgung und Ventilation der Kommandozentrale
- Teile der ursprünglichen Absperrungen und Überwachungseinrichtungen
Die meisten Exponate, insbesondere der Kommandoposten, können nur im Rahmen von Führungen besichtigt werden. Falls Ihr unangemeldet auftaucht, müsst Ihr höchstwahrscheinlich an einer Führung auf Ukrainisch oder Russisch teilnehmen, da die meisten Angestellten höchstens ein bisschen Englisch oder Deutsch sprechen. Eine geführte Minibus-Tagestour in englischer oder deutscher Sprache ab Kiew oder Odessa ist möglicherweise die bessere Option, da man sonst auch noch die Anfahrt selbst organisieren muss. Allerdings sind die Tagestouren auch viel teurer.
Das Museum ist täglich von 10:00 bis 17:00 Uhr geöffnet. Der Eintrittspreis plus Führung betrug 310 Hryvnia (etwa zehn Euro).
Der Ausstellungsraum
Der Ausstellungsraum wurde im ehemaligen Verwaltungsgebäude direkt hinter dem Eingang eingerichtet. Dort befand sich auch die „Kasse“ – ein Mann in Militäruniform, welcher an einem alten Holzschreibtisch Quittungen ausstellte.
Die interessantesten Exponate waren die alten Bedienkonsolen und andere Geräte, welche man aus verschrotteten Kommandoposten gerettet hatte.
Es gab auch ein maßstabsgetreues Modell eines Kommandoposten zu sehen. Die sowjetischen Ingenieure vom Zentralbüro für Transporttechnologie (ЦКБТМ, heute Teil von Roscosmos) hatten einfach das Design der Raketen und Silos recycelt und den Kommandoposten vom Typ KP 15V155 / 15V252U (КП, командный пункт/Komandnyy Punkt 15В155 / 15В52У) als eine lange, in sich geschlossene Metallröhre von 33 Meter Länge und 3,3 Meter Durchmesser ausgelegt, welche in ein zusätzliches Silo passte. Die gesamte Röhre konnte in einer Fabrik fertig zusammengebaut und dann zum Zielort transportiert werden.
Die Röhre ist in elf Abschnitte unterteilt, in welchen alles untergebracht ist, um den Kommandoposten im Falle eines Atomkrieges auch bis zu 45 Tage autonom am Leben zu halten.
- Abschnitte 1 und 2 (oben): Notstrom-Dieselgeneratoren
- Abschnitt 3: Kommunikationselektronik, angeschlossen an die Außenantenne
- Abschnitt 4: Steuerung und Überwachung
- Abschnitt 5: Kommunikationselektronik
- Abschnitte 6, 7 und 8: Elektrische Verteiler
- Abschnitte 9 und 10: Raketensteuerung
- Abschnitt 11: Der eigentliche Kommandoposten mit den Steuerung-, Überwachungs- und Kommunikationskonsolen. In diesem Abteil waren zwei Offiziere in Schichten von jeweils sechs Stunden Länge im Einsatz.
- Abschnitt 12 (unten): Schlafquartier
Die einzelnen Abschnitte sind über einen Aufzug erreichbar. Wenn sich der Aufzug in der Parkposition befindet, wird die Metallröhre von hydraulischen Dämpfern in der Schwebe gehalten und kann sich im Silo frei bewegen, um die Folgen eines direkten Treffers abzumildern.
Die Ausstellung zeigte auch ein Modell des Schlafquartiers (Abschnitt 12). Man beachte den winzigen Fernseher ganz hinten 😉
Die Karten an der Wand zeigten die Standorte der ehemaligen Raketensilos. Die Kommandoposten im Gebiet rund um Pervomaisk waren größtenteils mit weniger als den maximal möglichen zwölf Raketen verbunden. Dies geschah möglicherweise aus Redundanzgründen (mehr Kommandoposten erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Gegenschlags) oder wegen Einschränkungen bei der Länge der Leitungen zu den Silos.
Daneben gab es auch eine Reihe von Waffen aus früheren Konflikten bis zurück zum Ersten Weltkrieg zu sehen.
Die Freifläche
Auf der Freifläche gab es eine beeindruckende Auswahl von Raketen, Triebwerken und Triebwerksteilen zu sehen.
Der Stolz der Sammlung war wahrscheinlich die R-36M-2/SS-18 (15A18M) „Voevoda“ Interkontinentalrakete. Dieser Typ war die mächtigste Variante der R-36M-Familie und konnte bis zu zehn 500-Kilotonnen-Sprengköpfe zu einem Ziel in bis 11.000 Kilometern Entfernung tragen. Der direkte Vergleich mit der geradezu winzigen 13 Kilotonnen-Bombe, welche auf Hiroshima abgeworfen wurde, erklärt wahrscheinlich den NATO-Spitznamen „Satan“…
Russland hält Schätzungen zufolge heute immer noch rund 50 dieser Raketen in Betrieb.
Die Rakete befindet sich in einem Fiberglasbehälter, welcher beim Abfeuern im Silo verbleibt.
Zu sehen waren auch mehrere (leere) Behälter für die eigentlichen Atomsprengköpfe, darunter für die Langstreckenraketen R-12/SS-4 „Dwina“ und OTR-21/SS-21 „Tochka“ (Точка).
So mancher pro-russische Rebell in Donezk würde sich wohl wünschen, über solche Waffen zu verfügen…
Das Gelände war früher stark bewacht, und das Museum hat einen Großteil der ursprünglichen Schutzeinrichtungen erhalten. Dazu gehören ein Elektrozaun vom Typ P-100, Wachtürme mit Maschinengewehren, Kameras, seismische Sensoren und Geigerzähler.
Fahrzeuge und Raketensilo
Weiter hinten im Freigelände befand sich eine Sammlung von gepanzerten Züge und leichteren Militärlastwagen.
Es waren auch mehrere schwere LKW vom Typ MAZ-537 (МАЗ-537) mit verschiedenen Anhängern ausgestellt. Die Zugmaschinen waren stark genug, um eine komplette Rakete oder einen ganzen Kommandoposten zum endgültigen Standort zu transportieren und die Ladung auch in das Silo zu befördern. Kein einfacher Job – eine leere R-36M-Rakete wiegt etwa 60 Tonnen, ein Kommandoposten gar 125 Tonnen (8O)
Eine einzelne R-36M/SS-18-Rakete benötigt etwa 150 Tonnen Flüssigtreibstoff, welcher ebenfalls zu den Silos transportiert werden musste. Diese recht seltsam geformten Anhänger wurden verwendet, um die großen Mengen an Treibstoff durch die Gegend zu fahren.
Das Museum verfügt auch über ein R-36M/SS-18-Silo. Der riesige Deckel an der Oberfläche wiegt mehr als 30 Tonnen und sollte die Rakete bei einem feindlichen Angriff schützen. Wenn die Rakete abgefeuert werden musste, wurde der Deckel mit hydraulischen Zylindern geöffnet.
Der Kommandoposten
Das Metallrohr mit der Kommandozentrale befindet sich in einem geschlossenen Silo in der Nähe der Fahrzeuge. Der Eingang zum Silo liegt unter der Erde, wir mussten also zuerst in ein Gebäude und von dort aus durch die unterirdischen Tunnel gehen.
Die unterirdischen Tunnel sind insgesamt etwa 150 Meter lang. Auf dem letzten Abschnitt vor dem Eingang des Silos verlaufen auf beiden Seiten des Tunnels viele Kabel und einige Lüftungsschächte.
Mehrere Brandschutztüren isolieren das Silo von der Außenwelt.
Der obere Teil des Silos ist vollgestopft mit Technik, aber wir befanden uns immer noch außerhalb des eigentlichen Kommandopostens – sozusagen auf der Spitze des Eisbergs.
Wartungsleitern führen bis zum Boden des Silos, etwa 35 Meter unter der Oberfläche.
Bei den geführten Touren können die Besucher paarweise mit dem Aufzug zum Abschnitt 11 hinunterfahren und die eigentliche Kommandozentrale besuchen. Die Panele waren noch voll funktionsfähig und für einen simulierten Raketenstart umprogrammiert worden.
Nachdem beide Besucher gleichzeitig ihre Schlüssel umdrehten, spielten die Anzeigen das Originalprogramm durch. Eine Rakete nach der anderen wärmte sich auf und signalisierte einen erfolgreichen Abschuss. Zum Schluss sprang die letzte Lampe auf Grün, und alles war vorbei. Zum Glück war es nur eine Simulation – sonst hätte jetzt jemand einen sehr, sehr schlechten Tag gehabt 😉
Falls ihr sowieso in der Nähe seid oder Zeit für eine Tour ab Kiew bzw. Odessa habe, kann ich einen Besuch im Museum der strategischen Raketenstreitkräfte in Pobuzke nur empfehlen. Auf jeden Fall einer der wenigen Orte auf der Welt, an welchem man stilecht einen Thermonuklearen Krieg auslösen kann 🙂
Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.
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