Die Stalin-Tunnel

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Es gibt wahrscheinlich nur wenige Ansichten, welche alle Beteiligten der bewaffneten Konflikte des 20. Jahrhunderts geteilt haben. Eine gehört mit Sicherheit dazu: Unter der Erde ist es im Mittel sicherer als an der Oberfläche. Je gefürchteter der Feind, desto tiefer wurde gegraben. Beispiele dafür finden sich schon unter meinen eigenen Blog-Artikeln genug: Von Kommandobunkern in Moskau über die Stalin-Linie und einen verlassenen sowjetischen Atombunker in Moldau bis hin zu einem Bunker in den Alpen.

Die längste Tradition im Bau unterirdischer Militäranlagen hat ganz klar die Sowjetunion. Der Bau der Stalin-Linie begann 1928 noch vor der Maginot-Linie, und während des Kalten Krieges verschwand sowieso alles tief unter der Erde: Bunker, Raketensilos, Produktionsanlagen. Sogar die U-Bahnen wurden zu Atomschutzbunkern erweitert. Noch bis kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden neue Anlagen errichtet.

Ein weitgehend unbekanntes, alleine wegen seiner Größe schon beeindruckendes Projekt sind die beiden nicht fertiggestellten Tunnel unter dem Fluss Dnjepr bei Kiew. Schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erkannte Stalin die Brücken über die großen Flüsse Osteuropas als Schwachstellen bei einem eventuellen Angriff des Deutschen Reiches. Der Dnjepr war besonders kritisch, da der Fluss an vielen Stellen gleich mehrere Kilometer breit ist und sich nur wenige Orte für Brücken eigneten (das ist auch heute noch so). Die Wehrmacht hätte also mit wenigen Luftangriffen sämtliche wichtigen Brücken am Dnjepr zerstören können. Für die Stadt Kiew und ihre Festungsanlagen, die größten entlang der gesamten Stalin-Linie, hätte dies das Ende bedeutet. Der gesamte Nachschub kam über nur zwei Eisenbahnbrücken.

Stalin missfiel dieser Gedanke sehr, also war es mal wieder Zeit für eines seiner berüchtigten Geheimprojekte: Zwei jeweils sechseinhalb Kilometer lange Tunnel sollten den Dnjepr in einer Tiefe von bis zu 32 Metern unterqueren und den Nachschub jederzeit sichern. 1936 wurde Chruschtschow zum Leiter des auf eine Dauer von neun Jahre angelegten Projektes erklärt, da er bereits für den Bau der Moskauer Metro zuständig war und entsprechende Erfahrungen hatte. Der tatsächliche Baubefehl soll am 11. Oktober 1938 ergangen sein, als tatsächlicher Baubeginn wird meist der Frühling 1939 angegeben.

Der Nordtunnel sollte vom Stadtteil Oblon (Оболонь, linkes Dnjepr-ufer) zur Trabantenstadt Troieschina (Троєщина, rechtes Ufer) verlaufen. Der letzte heute noch sichtbare Beweis dafür besteht aus einer etwa 50 Meter langen, 15 Meter breiten und 15 Meter hohen Betonkonstruktion in einem Park am Dnjeprufer bei Oblon. Viele Quellen bezeichnen diese Konstruktion als Tunneleingang, tatsächlich handelt es sich aber um einen Senkkasten für die Bauarbeiten im Fluss.

Die Tunnel wurden nicht nur vom Ufer her gegraben, sondern gleichzeitig auch von der Mitte aus. Nachdem der Senkkasten bis auf den Grund des Flusses abgelassen worden war, stiegen die Arbeiter durch eine vertikale Röhre in eine Arbeitskammer und hoben dort das Mittelstück aus. Nach jeweils 70 Zentimetern Baufortschritt wurde ein Betonring eingesetzt um die Außenwände zu stabilisieren. Um einen Wassereinbruch zu verhindern, stand die Arbeitskammer unter zwei bis fünf Bar Überdruck. Aus technischer Sicht eine sehr effiziente Sache, aber – die Taucher unter den Lesern ahnen es schon – für die Arbeiter gesundheitlich sehr belastend. Bei einem Druck von vier Bar durfte jede Arbeitsschicht nur noch maximal 40 Minuten dauern, trotzdem kam es immer wieder zu Komplikationen durch Dekompressionskrankheit.

Vor einigen Jahren kam man die Idee auf, den im Park zurückgelassenen Senkkasten in ein Café umzubauen. Dieser Plan wurde bislang aber noch nicht umgesetzt.

Der Südtunnel sollte von der sogenannten Kosaken-Insel (Козацький острів, linkes Dnjepr-Ufer) bis zum Stadtteil Osokorki (Осокорки, rechtes Ufer) verlaufen. Die Bilder in diesem Artikel stammen von der Kosaken-Insel, da dort der längste und interessanteste Teil der ganzen Konstruktion einfach öffentlich zugänglich ist. Schon von der Straße aus war der über der Erde bzw. dem Wasser liegende Teil der Röhre gut zu sehen.

Zum Dnjepr hin (Richtung Osten) führt die Röhre abwärts und versinkt im Sumpf. An dieser Stelle kann man die Oberseite betreten und die ca. 600 Meter bis zum Eingang Richtung Westen spazieren. Wie man auf den Bildern unschwer erkennen kann, hat sich die Natur das ganze Areal schon lange zurück erobert. In den Sümpfen leben neben Wasservögeln und Fischen auch Biber.

Zu den beiden Tunneln gehörten noch zwölf weitere Baulose, darunter die Stabilisierung des Flussufers, der Bau von Zufahrtsstraßen und Gebäuden und die Installation von Strom-, Wasser- und Kommunikationsleitungen. Um die Stromversorgung der Tunnel zu sichern, wurden ein eigenes Kraftwerk und eine Ringleitung gebaut, welche alle Kraftwerke in Kiew miteinander verband.

Zu Baubeginn 1939 sollen insgesamt 2.500 speziell ausgesuchte Arbeiter an dem Projekt beteiligt gewesen sein. Absolute Verschwiegenheit war dabei oberstes Gesetz. Jede unbedachte Benutzung des Wortes „Tunnel“ in der Öffentlichkeit soll zur sofortigen Verurteilung zu zehn Jahren in einem Straflager geführt haben.

Deutschland und die Sowjetunion unterzeichneten zwar im August 1939 einen Nichtangriffspakt, die Arbeiten an den Tunneln wurden aber nicht eingestellt. Ganz im Gegenteil. Ende 1939 waren schon 10.000 Arbeiter im Einsatz, 1940 über 12.000. Der Südtunnel sollte 1944 als erster in Betrieb gehen.

Auf der Westseite befinden sich der Eingang und einige andere Ruinen. Der Tunnel war breit genug für ein Gleis pro Richtung, bei Bedarf konnten die Gleise aber auch mit Platten abgedeckt und für LKWs und Panzer passierbar gemacht werden.

Der Tunnel steht fast immer unter Wasser und kann mit Kanus oder kleinen Booten befahren werden. In sehr kalten Wintern soll es auch schon möglich gewesen sein, zu Fuß auf dem Eis in den Tunnel zu spazieren.

Im Februar 1941 kam es bei den Bauarbeiten zu einem schweren Unglück: Die Druckluft aus einer der Arbeitskammern entwich in sandigem Untergrund nach oben, und einer der Tunnel lief mit Wasser voll. Die Reparaturversuche wurden mit aller Kraft vorangetrieben. Als die Wehrmacht ab August 1941 vor Kiew stand, glaubte die sowjetische Führung zunächst, die Stadt halten zu können. Die Arbeiter wurden daher nicht zur Front abkommandiert und machten weiter, obwohl sie den Kampflärm bereits hören konnten.Schnell wurde jedoch klar, dass die Deutschen das Gebiet einkesseln und Kiew einnehmen würden. Alle Maschinen wurden entfernt oder eingemottet, die Tunnel geflutet und die Baustellen mit Erde zugeschüttet.

Im August 1944, wenige Monate nach der Befreiung Kiews durch die Rote Armee, wurden die Bauarbeiten am Südtunnel nochmals aufgenommen. 1949 stellte man diese jedoch wieder ein, gab beide Tunnel endgültig auf, sprengte Teile der Eingänge und füllte diese mit Beton. Wie weit die Bauarbeiten zu diesem Zeitpunkt fortgeschritten waren, ist nicht mit Sicherheit bekannt. Eine der Quellen nennt 154 Meter Baufortschritt am Senkkasten in Osokorki, sowie 191 Meter am Senkkasten plus 700 Meter Landtunnel auf der Kosaken-Insel. Dies deckt sich mit anderen Aussagen, denen zufolge bis August 1941 erst zehn Prozent der geplanten zwölf bis dreizehn Kilometer fertiggestellt gewesen sein sollen.

Die bereits verbauten Metallrohre wurden in den 1950er Jahren für den Bau der Kiewer U-Bahn verwendet, der ehemalige Projektleiter Konstantin Kuznetsov zum Bau der Sankt Petersburger Metro abkommandiert. Seitdem stehend die Überbleibsel in der Gegend herum.

Da andere Webseiten die Koordinaten der einzelnen Ruinen bereits offen nennen und hier nichts von Wert zerstört werden kann, nenne ich ausnahmsweise (!) die Details:

  • 50.33452 N, 30.57078 O: Das von uns besuchte Stück des Südtunnels auf der Kosaken-Insel (Baulose 4, 5, 6 und 7).
  • 50.36564 N, 30.61185 O: Ein oberirdisch verlaufendes Stück mitten in einem Wohngebiet in Osokorki (Baulose 2 und 3). An einem Straßenrand soll auch noch die Eingangsröhre eines vergrabenen Senkkastens zu sehen sein.
  • 50.49891 N, 30.52391 O: Der Senkkasten des Nordtunnels bei Oblon (Baulos 10).

Quellen: Ukraine Kiev Tour, UrbexTour, Kyiv Post

Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.

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