Grenzstadt Brest, Heldenstadt Brest

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Die letzte Station auf meiner Rundreise durch Belarus war Brest (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen und wahrscheinlich bekannteren französischen Hafenstadt). Brest wurde im Jahre 1019 zum ersten Mal urkundlich erwähnt und war damit zum Zeitpunkt meines Besuches 999 Jahre alt. Der 1000. Geburtstag soll am 29. und 30. Juli 2019 offiziell gefeiert werden. Und wie könnte man so einen Geburtstag besser feiern als mit einer Wiederaufführung der Befreiungsschlacht gegen das Dritte Reich im Zweiten Weltkrieg? Natürlich, was sonst 😉

Rote Armee und die Deutschen werden sich dann vor der Kulisse des wunderschönen Niemcewicz-Anwesens noch mal zur Erheiterung des Publikums die Köpfe einschlagen. Sicher ein Spaß für die ganze Familie, und ein guter Grund, um Brest vielleicht 2019 einen Besuch abzustatten. Wer sich schon mal vorab ein Bild davon machen möchte, wie so eine Wiederaufführung aussehen könnte, sei auf die Artikel zum Minsker Kriegsmuseum und der Stalin-Linie verwiesen…

Wie alle anderen Orte in Belarus hat auch Brest über die Jahrhunderte mehrfach den Besitzer gewechselt. Die Stadt war immer wieder Ort wichtiger Verhandlungen, beispielsweise wurde hier 1596 die Kirchenunion zwischen den Katholiken und den Orthodoxen unterzeichnet. Weniger erfreulich waren die unzähligen Feuersbrünste und Verwüstungen durch feindliche oder auch eigene Armeen. Bis auf die Festung Brest hat fast nichts den zweiten Weltkrieg überlebt.

Brest liegt unmittelbar an der Grenze zu Polen und damit auch an der Außengrenze der Europäischen Union. Die Grenze wird schwer bewacht, Grenzpolizei und Militär unterhalten große Kasernengelände. Straßen und Feldwege in Richtung der Grenzflüsse Bug und Muchawez sind meist bereits etwa einen Kilometer vor der Grenze gesperrt. Die Grenzsicherungsmaßnahmen richten sich wohl weniger gegen Ausländer und vielmehr gegen die eigenen Staatsbürger. Beispielsweise ist es den Mitarbeitern der staatlichen Holzverarbeitungsbetriebe bei Strafe verboten, ihre Arbeitsplätze aufzugeben und besser bezahlte Jobs in Russland anzunehmen.

Auch das Stadtbild war recht militärisch geprägt. An den Straßenseiten standen immer wieder Werbeplakate der Streitkräfte mit Aufschriften wie ВЫ ЗДАБЫЛІ МІР – МЫ ЗБЕРАЖОМ („Sie wünschen Frieden – wir sichern!“, wenn mich mein Belarussisch nicht trügt).

Gegenüber des Garisonsfriedhofs und unweit der Bahnstrecke in Richtung Polen erinnert ein eindeutig zu erkennendes Denkmal an die sogenannten „Atomsoldaten“. Am 14. September 1954 warf ein sowjetischer Bomber eine Atombombe vom Typ RDS-4, Codename „Tatyana“, über dem Testgelände nördlich von Totskoye im heutigen Russland ab. 45,000 Soldaten marschierten kurz nach der Explosion in Schutzkleidung und Gasmasken durch das verstrahlte Gebiet, um Strategien für die Kriegsführung nach einem Atomangriff zu erproben.

Der Park des Ersten Mai (ПКиО имени 1 мая)

Im Arbeiter- und Bauernstaat war der erste Mai als Tag der Arbeit traditionell einer der höchsten Feiertage. Es verwundert daher nicht, dass der Park des Ersten Mai die größte Parkanlage der ganzen Stadt ist. Neben den üblichen Fahrgeschäften gab es auch zwei kleine Seen, ein Amphitheater und einige Kunstobjekte zu sehen.

Das eine oder andere grasende Pferd durfte beim Besuch allerdings nicht stören…

Die Festung Brest

Um das ehemalige Schloss Brest wurden im 18. Jahrhundert immer wieder erbitterte Schlachten zwischen Polen, Litauen, Russland und sogar Schweden geschlagen. Nach der Eroberung der Stadt durch das Zarenreich im Jahr 1795 wurden das Schloss und große Teile der Altstadt zerstört, um Platz für eine gigantische Festung zu machen. Damals beschützten die sternförmigen Befestigungsmauern und Kanäle die ganze Stadt, heute liegt die Festung im Südwesten der Großstadt, direkt an der Grenze zu Polen.

Brest wurde drei Mal von den Deutschen erobert: 1915 im ersten Weltkrieg, 1939 während des Polenfeldzuges und zwei Jahre später nach dem Einmarsch des Dritten Reichs in die Sowjetunion (Operation Barbarossa). Von der Roten Armee abgeschnitten und im Stich gelassen, kämpften die sowjetischen Verteidiger im Juni 1941 sechs Tage lang weiter verbissen um die Festung. Erst die Bombardierung aus der Luft führte zum Sieg der Deutschen. Hitler und Mussolini besuchten die eroberte Festung kurz darauf im August 1941 unter sehr strengen Sicherheitsvorkehrungen.

In der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung wurde in den 1950er Jahren aus den sechs Tagen nachträglich ein ganzer Monat, da die Festung verteidigt worden wäre, „solange auch nur ein einziger Mann weiter gekämpft“ habe. Dieser Mann sei demnach Major Pjotr Michailowitsch Gawrilow (Пётр Михайлович Гаврилов) gewesen. Seine Gefangennahme fiel dem offiziellen Narrativ nach auf den 32. Tag der Belagerung.

Auf den Ruinen der Festung Brest wurde 1955 zunächst ein kleines Museum eingerichtet. 1965 bekam die Festung, in Anlehnung an die bereits existierenden Heldenstädte (город-герой), „für das massenhafte Heldentum ihrer Verteidiger im Großen Vaterländischen Krieg“ den Titel „Heldenfestung“ zugesprochen. Diese Auszeichnung führte zur Errichtung einer gigantischen Gedenkstätte auf dem Kerngelände der ehemaligen Festung.

Auf Play drücken, um die Aufnahme abzuspielen.

Über dem Eingang liegt ein 44 Meter langer und zehn Meter hoher Betonklotz mit einem sternförmigen Durchbruch. Im dunklen Inneren wurde alle zehn Minuten die selbe Tonufnahme abgespielt: Zuerst ertönte das Ticken einer Uhr, dann Kampfgeräusche und eine Melodie von Isaak Ossipowitsch Dunajewski (Исаак Осипович Дунаевский), welches früher als „Einstellhilfe“ auf der Frequenz des staatlichen Radiosenders zu hören war, bevor der Sendebetrieb startete.

Darauf folgten die Verkündung des Kriegszustandes durch den berühmten Radiosprecher Juri Borissowitsch Lewitan (Юрий Борисович Левитан) und das bekannte Lied „Der heilige Krieg“ (Священная война) von Alexander Wassiljewitsch Alexandrow (Александр Васильевич Александров), dem Komponisten der Hymne der Sowjetunion.

Kaum zu übersehen waren das 54 Meter breite und über 30 Meter hohe Monument „Courage“, welches einen Soldaten vor einer Flagge zeigt, und der 100 Meter hohe Obelisk mit der ewigen Flamme. Der fast 600 Tonnen schwere Obelisk wurde im Sommer 1971 auf dem Boden liegend zusammengebaut und dann innerhalb von sechs Stunden mit Hilfe einer Windenkonstruktion in einem Stück aufgerichtet.

Im Vergleich dazu sah die mit „Durst“ betitelte Skulptur fast schon klein aus Allerdings schien sie auf viele Besucher eine größere Anziehungskraft zu haben als ihre großen Brüder. Kein Wunder: Sie symbolisiert die dramatischen Szenen, welche sich in Folge der Kappung der Wasserversorgung am ersten Tag der Besatzung in der Festung abgespielt hatten. Der Russlandfeldzug 1941 fand schließlich nicht wie häufig angenommen mitten in Winter statt, sondern bei bestem Sommerwetter.

Im Juni 1941 fegte eine historische Hitzewelle durch Europa. Sowjetische Soldaten, Frauen und Kinder mussten bei extremen Temperaturen ohne Wasser in der Festung ausharren. Die Maschinengewehre mussten ebenfalls mit Flüssigkeit gekühlt werden. Das oft nur wenige Meter entfernte Wasser in den Festungsgräben wurde durch den feindlichen Beschuss unerreichbar, wer sich trotzdem für ein paar Tropfen hinauswagte, kam dabei meist ums Leben. Nach dem Krieg sollen in den Gräben zahlreiche durchlöcherte Helme und Wasserflaschen gefunden worden sein.

Die Garrisonskirche wechselte während der Kämpfe oft stündlich die Seite. Das Gebäude wurde außen zwar renoviert, im Inneren aber als Mahnmal weitestgehend im Zustand von damals belassen. Erst 1991, 50 Jahre nach der Belagerung, fand hier wieder ein Gottesdienst statt.

Bis heute ist Brest die einzige Heldenfestung geblieben. Der Titel Heldenstadt wurde bis zum Ende der Sowjetunion an zwölf Städte verliehen, darunter auch an Minsk.

Für den Besuch der Festung sollte man sich mehr als nur zwei Stunden Zeit nehmen, denn das Denkmal macht nur einen kleinen Teil der eigentlichen Anlage aus. Im weiten Umkreis befinden sich Wassergräben und weitere Verteidigungsanlagen. Der Großteil davon wurde einfach sich selbst überlassen.

Die Wassergräben waren ein Paradies für Naturliebhaber wie mich. Überall quakte, hüpfte, flatterte und zappelte es. Ich musste nie lange auf ein gutes Motiv warten 🙂

Grenzbahnhof und Eisenbahmuseum

Brest ist bis heute der bedeutendste Bahnhof für den grenzüberschreitenden Verkehr zwischen Europa und Russland. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Die aus Polen kommende Bahnstrecke wurde in der europäischen Spurweite von 1435 Millimetern verlegt, Belarus und Russland verwenden aber die russische Breitspur mit 1520 Millimetern Breite. Der Bahnhof Brest hat Gleise in beiden Spurweiten, Waren können also einfach umgeladen werden. Ähnliche Situationen gibt es sonst nur noch an den europäischen Grenzen zur Ukraine und zu Litauen.

Bei Personenwaggons werden mit Hilfe einer Umspurungsanlage sogar die Waggons in die Luft gehoben und auf neue, breitere Drehgestelle gesetzt. Dieses zeitaufwändige Verfahren wird aber zunehmend durch den Einsatz spezieller Waggons mit automatischer Umspurung abgelöst.

Der Passagierbahnhof Brest besteht heute aus zwei getrennten Teilen für den Nah- und Fernverkehr. Das große Hauptgebäude musste zwei Mal komplett wieder aufgebaut werden, nachdem es während beider Weltkriege zerstört wurde. Wer mit der sowjetischen Architektur etwas vertraut ist, erkennt sofort den typischen Baustil der 1950er Jahre unter Stalin wieder. Nur die Telekommunikationstechnik und das Warenangebot in den Bahnhofskiosken waren etwas neueren Herstellungsdatums.

Der gesamte Fahrplan für alle Wochentage passte auf eine einzige große Anzeigentafel. Auch die berühmten internationalen Direktzüge nach Europa mit den Nummern 009/010 (Warschau-Moskau), 013/014 (Berlin-Moskau), 017/018 (Nizza-Moskau), 021/022 (Moskau-Prag) und 023/024 (Moskau-Paris) waren aufgelistet.

Die Eisenbahn hat nicht nur das Stadtbild, sondern auch die Geschichte der Stadt geprägt. Etwa auf in der Mitte zwischen dem Park des Ersten Mai und der Festung liegt ein sehr interessantes Eisenbahnmuseum mit Exponaten aus verschiedenen Epochen.

Das Eisenbahnnetz war im Zarenreich bis 1916 auf eine Länge von 50.000 Kilomtern angewachsen, die Transsibirische Eisenbahn gerade fertig gestellt worden. Als die Oktoberrevolution 1917 über das Land hereinbrach, bildete die Eisenbahn das logistische Rückgrat für den Bürgerkrieg und die daraus folgende Gründung der Sowjetunion. Trotzki, einer der maßgeblichen Organisatoren und damals als Volkskommissar Gründer und Anführer der Roten Armee, verbrachte einen Großteil des Bürgerkrieges in seinem gepanzerten Zug.

Bis 1940 wurde die Streckenlänge auf mehr als 100.000 Kilometer verdoppelt, zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung waren knapp 145.00 Kilometer in Betrieb. Millionen Menschen arbeiteten für die Eisenbahnbetriebe, sogar Kinder. Zum Vergleich: ganz Europa bringt es heute auf etwa 150.000 Kilometer, die USA über 250.000 Kilometer. Gemessen an der Größe der Sowjetunion waren 145.000 Kilometer also nicht viel, andererseits konzentrierte sich der Großteil der Bevölkerung immer schon östlich des Urals.

„Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“, so definierte Lenin das erklärte Hauptziel seiner Partei nach der Oktoberrevolution. Zu einer vollständigen Elektrifizierung der Eisenbahn in der ganzen Sowjetunion kam es aber nie. Verschiedene Baureihen von Dampflokomotiven wurden entweder selbst entwickelt, im Ausland eingekauft oder als Reparationsleistungen aus Deutschland abgezogen. Unter so manchem Kommunistenstern verbirgt sich noch heute ein deutsches Symbol, und auf so manchem Drehgestell im Museum stand noch „Deutsches Reich“.

Auch heute leisten die alten Diesellokomotiven mit ihren typischen Fronten und der schon von weitem sichtbaren Bemalung noch gute Dienste in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken. Die schweren, leistungsstarken Dieselmotoren können bei der Durchfahrt ganze Brücken zum Schwingen bringen. Ein Erlebnis für sich 🙂 Der Treibstoffverbrauch und vor allem die Umweltbelastung sind natürlich nicht mit dem aktuellen Stand der Technik vergleichbar. Aber in vielen Fällen fehlt aber schlicht und einfach das Geld für bessere Alternativen.

Interessantes Kuriosum: Ein Schienen-Motorrad, zusammengeschweißt aus einem Motorrad und passenden Stahlteilen 😯

Mit diesem Artikel endet meine Rundreise durch Belarus. Alle existierenden Artikel über das Land und viele weitere Bilder gibt es hier. Der nächste Artikel führt uns dann in den hohen Norden Europas… 🙂

Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.

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