Auf Deutschland schießen an der Minsker Stalin-Linie

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Vielen dürfte die französische Maginot-Linie ein Begriff sein. Tausende von militärischen Bauwerken, ein hunderte Kilometer langes Bollwerk von Belgien bis ans Mittelmeer, sollten Frankreich (erfolglos) vor einem Angriff durch das Deutsche Reich beschützen. Das Sowjetische Gegenstück dazu ist hingegen weit weniger bekannt. Parallel zum Aufbau der Maginot-Linie errichtete die Sowjetunion ab 1928 die Stalin-Linie (Лінія Сталіна). Sie verlief von Narwa im heutigen Estland über Witebsk und Gomel im heutigen Belarus bis Odessa in der heutigen Ukraine.

Innerhalb von zehn Jahren enstanden bis 1938 unzählige schwer bewaffnete und befestigte Bunker, Panzersperren und Schützengräben auf einer Länge von fast 2.000 Kilometern zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Ein gutes Beispiel dafür, wie gefürchtet das Dritte Reich Ende der 1930er Jahre gewesen sein muss. Nach der Verabschiedung des Hitler-Stalin-Paktes im August 1939 verschob sich die Westgrenze der Sowjetunion um 300 Kilometer nach Westen in Richtung Polen. Stalin befahl die Aufgabe der Stalin-Linie zugunsten einer neu zu errichtenden, weiter westwärts gelegenen Molotov-Linie. Die Waffen wurden demontiert und eingelagert. Als das Deutsche Reich 1941 in die Sowjetunion einmarschierte, waren beide Linien nicht gefechtsbereit.

Heute gibt es nur noch wenige gut erhaltene Überreste der ehemaligen Stalin-Linie. 35 Kilometer nordwestlich von Minsk wurde ein kleiner Abschnitt restauriert und in eine Art Freilichtmuseum/Militär-„Vergnügungspark“ verwandelt. Wie man sich so etwas vorzustellen hat, dürfte nach meinen Besuchen in Moskau am Tag des Sieges und im Minsker Kriegsmuseum klar sein. Es wird also wieder etwas absurd… 😉

Ich war per Mietwagen angereist und hatte mich von den uniformierten Parkwächtern (Rote Armee, wie es sich gehört) auf Deutsch (!) einweisen lassen. Unter dem strengen Blick von Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili, später bekannt als Josef Wissarionowitsch Stalin, parkte ich ein. Ob die Rote Armee früher auch schon für die Parkraumbewirtschaftung gesorgt hat, weiß ich leider nicht, aber es fing schon mal gut an…

Das Gelände besteht grob aus acht unterschiedlichen Bereichen: dem Parkplatz mit der Kasse, einem Souvenirladen und einem Cafe, einem restaurierten und begehbaren Teil der eigentlichen Stalin-Linie, einem Schießstand, einem Theater, einem in der Mitte liegenden Teich, einer Ausstellung von Kriegsgerät aus verschiedenen Epochen, einer Panzerrennstrecke und einem Schrottplatz. Ich war wegen der Stalin-Linie hier her gekommen, also begann ich auch dort mit meinem Rundgang.

Die Stalin-Linie

An der Oberfläche gab es bis auf einige begehbare Schützengräben, einen Wachturm und die eine oder andere Flugabwehrkanone nicht sonderlich viel zu sehen. Also auf in den Untergrund!

„границы с.с.с.р. священны и неприкосновенны“ stand an dieser Wand, auf Deutsch „Die Grenzen der UdSSSR sind heilig und unantastbar“.

Die Bunkeranlagen der Stalin-Linie schienen mir technisch weniger ausgefeilt gewesen zu sein als jene der Maginot-Linie. Aber genau das wurde der Maginot-Linie ja auch zum Verhängnis: zu viel ausgefeilte Technik, zu schwache Bewaffnung. Welchen Nutzen hat zum Beispiel eine unterirdische elektrische Eisenbahn für den Munitionstransport, wenn die wenigen Geschütze die Landesgrenze nur spärlich abdecken können?

Der Schießstand

Wenn Osteuropäer in einen Militär-Vergnügungspark gehen, dann wollen sie dort auch etwas geboten bekommen. Wie wäre es mit ein paar Schuss auf die Wehrmacht, wie früher? Kein Problem. Es gab sogar etwas Auswahl, links eine eindeutig geformte Zielscheibe und rechts einen echten deutschen Panzer 😯

Natürlich wurde hier nur mit Platzpatronen geschossen. Die Zielscheibe kam wahrscheinlich durch einen unbeobachteten Druck des freundlichen Herr von der Roten Armee auf einen versteckten Knopf zu Fall. Aber das interessierte seine vielen Kunden nicht.

Also: Die passende Waffe aussuchen…

…und dann entweder kurz an der deutschen Maschinenpistole vom Typ Maxim MG-8 einweisen lassen…

…oder direkt mit der Automat Kalaschnikow AK-47 (Автомат Калашникова АК-47) loslegen. Ein Schuss kostete in der Regel fünf Rubel (ca. 2,10 Euro).

Ab und zu wurde die Artilleriekanone abgefeuert, um für eine angemessene Geräuschkulisse zu sorgen. Auch hier wurden nur Treibladungen ohne Projektil „abgefeuert“. Eine elektronische Schaltung zündete einige Sekunden nach dem Abschuss eine zweite Ladung Schwarzpulver im Panzer und ließ dort schwarzen Rauch aufsteigen.

Wer möchte, kann auch an Paintball-Tournieren teilnehmen oder seine ГТО-Ausbildung nachholen. ГТО steht für „Готов к труду и обороне СССР“, auf deutsch „Bereit für Arbeit und Verteidigung der UdSSR“, eine Art militärische Grundausbildung für die gesamte Bevölkerung der Sowjetunion.

Wer in Disziplinen wie „50 Meter laufen“, „schnell marschieren“, Seilklettern, Ski-Langlauf, „Munitionskisten tragen“, „Montage und Demontage von Waffen“ oder auch „Granaten werfen“ die erwarteten Leistungen zeigte, erhielt ein Abzeichen in Gold oder Silber in der jeweiligen Alterskategorie. Ab 1972 konnten Kinder ab sieben Jahren teilnehmen, ab einem Alter von 55 (Frauen) bzw. 60 (Männer) Jahren wurden keine Abzeichen mehr vergeben.

Ein bisschen wie das Deutsche Sportabzeichen, nur mit deutlich schwererer Bewaffnung 😯

Das Theater

Wer jetzt annimmt, dass das Thema Unterhaltung damit schon beendet gewesen wäre, liegt ganz falsch. Es ging erst so richtig los. Vor den Zuschauerrängen des nahe gelegenden Freilichttheaters erstreckte sich ein ganzer Kriegsschauplatz. Schauspieler, Panzer und andere Fahrzeuge leisten sich hier bei besonderen Gelegenheiten (z.B. am 9. Mai, dem Tag des Sieges) ein Schauspiel für die ganze Familie.

Belarussischer Pragmatismus: „осторожно танки“, „Achtung Panzer“! Also erst nach links schauen, ob von dort ein Panzer kommt, dann nach rechts schauen, ob von dort ein Panzer kommt, und erst danach den Kriegsschauplatz überqueren. Wie man es im Kindergarten eben gelernt hat 😉

Am Teich vorbei ging es zum Ausstellungsgelände. Wie wäre es unterwegs mit einem Ritt auf dem Kanonenboot? Nein? Schade.

Die Panzerrennstrecke

Wer nach Theater, Schießstand und Kanonenboot immer noch nicht genug hatte, konnte mit einer wilden Panzerfahrt weitermachen. Zur Auswahl standen eine ganze Reihe von Gefährten sowjetischer und auch deutscher Bauart. Billig war der Spaß allerdings nicht: Für eine etwa 1750 Meter lange Fahrt von 15 Minuten Dauer wurden zwischen 200 Rubeln (ca. 85 Euro, sowjetischer Panzer Typ PT-76/ПТ-76) und 2000 Rubeln (c.a 850 Euro, deutsches Sturmgeschütz III) berechnet. Allerdings verteilten sich Kosten auf bis zu zehn Passagiere.

Am Tag meines Besuches stand das billigste Modell, der sowjetische Schwimmpanzer PT-76 Baujahr 1952, zur Abfahrt bereit. Die immerhin 240 PS beschleunigen den Panzer auf bis zu 45 km/h an Land und bis zu 10 km/h im Wasser.

Der Fahrer drehte mehrere wilde Runden über die Hügel der rund 600 Meter langen Rennstrecke. Sicherheitsvorkehrungen? Fehlanzeige! Die Rote Armee hatte damals ja auch keine Sicherheitsgurte… 😯

Neben der Panzerrennstrecke werden auf Nachfrage auch Rundflüge mit einem sowjetischen Militärhubschrauber vom Typ Mil Mi-2 (Миль Ми-2) angeboten.

Das Ausstellungsgelände

Über den Rest des Geländes waren alle Arten von Panzern, Flugzeugen, Raketen, etc. verteilt. Solche Ausstellungsflächen gibt es allerdings in fast allen Staaten des ehemaligen Ostblocks. In den meisten Fällen sind diese auch mit ähnlichen Modellen bestückt.

Ob die Mitarbeiter wohl manchmal mit diesem Raupentransporter zum Einkaufen fahren? 😉

Ein seltener Anblick: Links sind zwei Abschussrampen für die Flugabwehrsysteme S-300P (С-300П, vertikale Röhren) und S-200 (С-200, Rakete mit vier Triebwerken) zu sehen. Beide sind offenbar derzeit in Syrien stationiert.

In der Mitte ragt eine einstufige Rakete vom Typ R-12 (P-12) 22 Meter in die Höhe. Nichts besonderes, möchte man meinen. Die Stationierung dieser ballistischen Mittelstreckenraketen auf Kuba löste allerdings 1962 die Kubakrise aus und drängte die Menschheit an den Rand der totalen nuklearen Zerstörung. Eine Stationierung in der DDR war ebenfalls geplant, wurde aber wegen der Verfügbarkeit des Nachfolgers R-14 (P-14) nicht mehr in Angriff genommen.


Nach so viel Action wurde es Zeit für etwas Erholung. Zum Glück befand sich etwa in der Mitte des Geländes ein kleiner Imbiss. Wann kann man sonst schon mal zwischen einem Getränkeautomat, einem Su-25 (СУ-25) Kampfjet und einem Stapel Bomben sitzen und die Sonne genießen?

Das Verhältnis zu Lenin schien, wie so oft, auch hier etwas zerrüttet zu sein. Einerseits war die Büste mannshoch. Andererseits stand diese ganz hinten am Rand des Geländes in einer Ecke, umgeben von einem zusätzlichen Zaun.

Der Schrottplatz

Mit den sonst noch auf dem Gelände verteilten Wracks hätte man wahrscheinlich ein zweites Museum befüllen können. Ein Teil der Fahrzeuge wartete auf die Restaurierung in der hauseigenen Werkstatt. Der Rest war wohl nicht mehr zu retten und stand als Dekoration im Gras herum, um die „Kriegsgebiet-Optik“ zu verstärken.

Im nächsten Artikel geht es nach Brest, der letzten Station meiner Rundreise durch Belarus. Eisenbahn- und Naturfreunde kommen sicher auf ihre Kosten, so viel sei schon verraten… 😉

Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.

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