Druzhnyj: Ein Lost Place für echte Freunde

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Ich stand vor einem großen Tor, links und rechts davon Mauern und Zäune. „Pionierlager Druzhnyj“ (дол Дружный) stand irgendwo weiter hinten auf (Bela-)Russisch auf einem Schild geschrieben. Das Tor war abgeschlossen, das Schloss verdächtig neu. Ich hatte es schon an anderen Stellen des Geländes versucht und überlegte gerade, wie ich doch noch auf die andere Seite des Zaunes kommen könnte. Plötzlich tauchte ein Hund auf, bellte mich aus einiger Entfernung an, und irgendwie wollte ich gar nicht mehr auf die andere Seite.

Während ich mich innerlich schon darauf einstellte, umsonst in einen Wald irgendwo vor Minsk gefahren zu sein, tauchte ein Wachmann auf. Vorsichtig tauschten wir ein paar Brocken Russisch aus. Nein, Fotos könnte ich hier keine machen. Aber nur ein Teil des Geländes wäre verkauft und eingezäunt worden. Die hintere Hälfte sei noch offen zugänglich, ich hätte nur den falschen Weg genommen. Zwanzig Sekunden gemeinsames Gefuchtel über der Karte später bedankte ich mich recht herzlich, ließ ein Wurstbrot für den Hund da und stieg wieder in den Mietwagen. Kurz darauf parkte ich vor den Ruinen des ehemaligen Pionierlagers.

Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass der Wachmann und ich unfreiwillig den Geist der Erbauer bis ins Jahr 2018 getragen hatten. „Druzhnyj“ bedeutet „freundschaftlich“.

Wie schon im Artikel zur Minsker Saslonow-Kindereisenbahn beschrieben, sollten alle Bürger der Sowjetunion bereits von Kindesbeinen an mit der kommunistischen Ideologie vertraut gemacht werden. Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein und Führungsstärke sollten bewusst gefördert werden, Arbeitseinsätze und andere Gemeinschaftsaktivitäten den Zusammenhalt stärken.

Die Jugendorganisation Komsomol (Комсомол) und die ihr angegliederten Pionierorganisationen dienten auch als Kaderschmieden für die Partei, die Industrie und den Bildungssektor. Wer nicht zumindest als „Mitläufer“ aktiv war, hatte später schlechte Chancen auf eine höhere Position oder einen Platz an einer Universität.

Damit die Partei auch außerhalb der Schulzeit Zugriff auf den Nachwuchs hatte, wurde die Freizeitgestaltung so weit wie möglich durchorganisiert. Man befürchtete sonst einen zu großen Einfluss konkurrierender Organisationen, wie etwa der Kirchen. Ab den 1920er Jahren wurden die ersten Pionierlager eingerichtet.

Zuerst orientierte man sich an den Zeltlagern der Pfadfinder, später wurden Anlagen mit festen Häusern und Bungalows aufgebaut. Den Kindern und Jugendlichen wurden in diesen „Pionierrepubliken“ oft weitgehende Mitspracherechte eingeräumt. Alleine auf dem Gebiet der DDR gab es 48 Zentrale Pionierlager, viele werden heute weiter als Erholungs- oder Berufsbildungszentren genutzt.

Das größte Pionierlager der Sowjetunion, das Allunions-Pionierlager Artek (Артек) auf der Halbinsel Krim, bestand aus über 150 Gebäuden mit drei Krankenstationen, einer Schule, einem Filmstudio (!), drei Schwimmbecken, einem Stadion mit 7.000 Sitzplätzen (!) und vielen anderen Anlagen. Zu Spitzenzeiten übernachteten damals bis zu 27.000 Kinder pro Jahr in dem Lager.

Die Ukraine konnte sich den Weiterbetrieb noch bis 2009 leisten. Nach der Annexion der Krim nahm Russland das Lager wieder in Betrieb und baut die Kapazitäten derzeit auf bis zu 50.000 Kinder pro Jahr aus.

In den vor mir liegenden Ruinen des Pionierlagers Druzhnyj hatte noch etwa bis ins Jahr 2004 Betrieb geherrscht. Zumindest existieren Berichte ehemaliger Gäste aus dieser Zeit. Die meisten Gebäude bestanden aus Holz, die wenigen gemauerten Gebäude waren noch gut in Schuss. Allerdings befanden sie sich wie der ehemalige Fußballplatz, das Kino, das Heizwerk, die Gemeinschaftsbäder und das Amphiteather auf dem bewachten Teil.

Zwei meiner Arbeitskollegen stammen ursprünglich aus Bulgarien. Als ich sie auf die Pionierlager ansprach und ihnen diese Bilder zeigte, erkannten sie vieles wieder. So schön wie im ehemaligen Pionierlager Druzhnyj sei es in Bulgarien aber meist nicht gewesen, waren sich beide einig. Sie erinnerten sich eher an Zeltlager.

Meine beiden Kollegen verbanden hauptsächlich positive Erinnerungen mit den Pionierlagern. Die Organisation sei ziemlich militärisch ausgerichtet gewesen, inklusive morgendlichem Weckruf mit der Trompete. Allerdings habe es auch sehr viele Streiche, Ausbrüche und gemeinsame Abende vor dem Fernseher im großen Saal gegeben 🙂

Alle Wohneinheiten waren früher an das Elektrizitätsnetz angeschlossen gewesen. Bundmetalldiebe hatten sich aber wohl schon vor langer Zeit über dessen Reste hergemacht.

Der Verfall war bereits recht weit fortgeschritten. Das eine oder andere auf dem Boden liegende Überbleibsel deutete auf wilde Schlachten mit Luftgewehren hin.

Die Schlafzimmer schienen generell nur mit wenigen Betten belegt gewesen zu sein. Wohnzimmer waren oft zusätzlich vorhanden. Ich nehme an, dass in diesem Teil des Geländes eher die Betreuer und das Verwaltungspersonal untergebracht gewesen waren. Meine beiden Kollegen aus Bulgarien bestätigten diese Annahme.

Es war in diesem Pionierlager sehr bunt zugegangen, so viel lässt sich mit Sicherheit sagen. Rot, Blau, Grün, Gelb und Weiß – die fünf in der ganzen ehemaligen Sowjetunion wohl am häufigsten anzutreffenden Farbtöne für Holzlacke. Die eine oder andere Tür hatte im Laufe der Jahrzehnte wohl gleich mehrere verschiedene Farbschichten abbekommen.

Die Natur eroberte sich ihren angestammten Platz langsam wieder zurück. In wenigen Jahren dürfte das ganze Gelände wohl von jungen Nadelbäumen und Hecken überwuchert worden sein.

Einige Gebäude waren bereits komplett eingestürzt oder von umstürzenden Bäumen stark in Mitleidenschaft gezogen worden.

Gegessen wurde in zwei Kantinen mit jeweils eigener Küche: einem beigen Ziegelblock für die Kinder, und einem schöneren, am Rand gelegenen Holzgebäude. Laut Berichten früherer Gäste war das Holzgebäude schon 2002, also mehrere Jahre vor der Schließung des kompletten Geländes, verbarrikadiert worden.

Die Architekten hatten sich hier etwas mehr Mühe als sonst gegeben und das Gebäude als dreieckigen, auf drei Seiten mit Glasfronten versehenen Bau angelegt. Damals sicher eine sehr schöne Umgebung für ein Frühstück oder Abendessen, heute sollte man beim Betreten allerdings vorsichtig sein.

Auf der Rückseite schlossen die Küche und andere Räume für die Zubereitung der Speisen an. Geräte und Maschinen hatte man schon vor langer Zeit entfernt und nur die blanken, baufälligen Holzwände, Holzdecken und Fliesen zurück gelassen.

Ganz am Rande in einer Ecke: Zwei Toiletten. Eine Kanalisation schien es nicht gegeben zu haben. Zumindest hatte ich unter einem anderen Toilettenhäuschen nur eine Sickergrube gesehen.

Wie immer verschwand ich so leise, wie ich gekommen war und hinterließ nichts außer Fußspuren. Ein anderes Lebewesen hatte hier allerdings mehr Spuren hinterlassen – um welches Tier es sich wohl gehandelt hatte? 😯

Nächstes Mal geht es mit dem Mietwagen weiter nach Westen in Richtung Brest, zur ehemaligen Stalin-Linie 🙂

Viele weitere Bilder von Lost Places findet ihr in der entsprechenden Kategorie.

Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.

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