Der verfallende jüdische Friedhof von Chișinău

This post is also available in English. Mehr Artikel über Moldau gibt es hier!

Der in diesem Beitrag beschriebene Friedhof ist keine offizielle Touristenattraktion wie etwa der Alte Jüdische Friedhof in Prag, sondern Teil eines schwierigen Kapitels der Geschichte der Republik Moldau. Bitte denkt daran, falls Ihr diesen Ort besuchen möchtet.

Die Geschichte Bessarabiens und damit auch Moldaus ist sehr eng mit der jüdischen Kultur verbunden. Im Jahr 1897 gehörten laut offizieller Zählung 225.637 der insgesamt 1.936.392 Einwohner der Region (knapp elf Prozent) der jüdischen Glaubensrichtung an. Der Anteil der Juden in Chișinău betrug im Jahr 1903 etwa 46 Prozent (etwa 50.000 von geschätzt 110.000 Einwohnern). Alle größeren Städte hatten eigene Synagogen und jüdische Friedhöfe, auf dem Land hingegen war das Judentum kaum vertreten.

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts blieb die Situation weitestgehend stabil. Zwar veröffentlichte die russische Tageszeitung Бессарабец (Bessarabetz, Der Bessarabier) immer wieder offen antisemitische Schlagzeilen mit Titeln wie „Tod allen Juden!“ und „Kreuzzug gegen die verhasste Rasse!“, es kam aber zu nicht zu Übergriffen. Dies sollte sich im Jahr 1903 leider dramatisch ändern.

In diesem Jahr wurde ein ukrainischer Junge christlichen Glaubens namens Mikhail Rybachenko in Dubăsari, etwa 40 Kilometer nördlich von Chișinău, tot aufgefunden. Gleichzeitig verstarb ein junges Mädchen nach einem Suizidversuch in einem jüdischen Krankenhaus. Schnell verbreiteten sich hauptsächlich durch die Zeitung Бессарабец in die Welt gesetzte Gerüchte, dass beide Tode in Wahrheit Morde gewesen seien und das Blut der Kinder als Teil eines jüdischen Rituals verwendet worden wäre. Als die ebenfalls russische Tageszeitung Свет (Svet, Licht) und der russisch-orthodoxe Bischof von Chișinău auch auf diese Interpretation aufsprangen, eskalierte die Situation sehr schnell.

Das erste Pogrom begann am 19. April 1903 und dauerte zwei Tage an. Von Seiten der Regierung wurde kein Versuch unternommen, die Ausschreitungen zu stoppen, Polizei und Militär sahen tatenlos zu. Die New York Times berichtete am 28. April, neun Tage nach den Ausschreitungen (Telekommunikation dauerte damals noch sehr lange), von einem von Priestern angeführten und durch die Straßen ziehenden Mob. Zu Beginn wurde von 120 Toten berichtet, heute geht man von etwa 50 Toten aus. Es waren aber auch über 700 Häuser zerstört und über 600 Geschäfte geplündert worden, was damals mehr als deutliche Spuren im Stadtbild hinterlassen haben muss.

Der Mord an Mikhail Rybachenko wurde später als nicht religiös motiviert aufgeklärt. Der russische Botschafter in den USA führte die Ausschreitungen in einem Interview auf einen Konflikt zwischen „der in Bedrängnis lebenden Unterschicht und Geldverleihern“ zurück. Juden wären demnach unbeliebt, weil sie die Bevölkerung wirtschaftlich ruinieren würden, und nicht wegen ihres Glaubens.

Das zweite Pogrom ereignete sich am 19. und 20. Oktober 1905. Eigentlich waren die Ausschreitungen aus Protesten gegen den russischen Zaren entstanden, richteten sich dann aber auch sehr schnell gegen die jüdische Bevölkerung. Dieses Pogrom war Teil einer großen Welle ähnlicher Ereignisse, welche sich nach der Veröffentlichung des Oktobermanifests im ganzen Russischen Reich abspielten. Nach dem Pogrom von 1903 hatten sich jüdische Selbstverteidigungsgruppen gebildet, welche einen Teil der Gewalt erfolgreich verhindern konnten. Die Zahl der Toten war wohl auch deswegen geringer als zwei Jahre zuvor und wird mit 19 Personen beziffert.

Man kann allein schon an der Bildung der Selbstverteidigungsgruppen deutlich sehen, dass sich das politische und soziale Klima dramatisch geändert hatte. Das Pogrom von 1905 markierte den Beginn der Auswanderung Zehntausender auf russischem Staatsgebiet lebender Juden nach Westeuropa oder Palästina.

Während des zweiten Weltkriegs hatte das Deutsche Reich zwar zunächst anerkannt, dass Bessarabien unter dem Einfluss der Sowjetunion stehe, nach der Invasion der Achsenmächte in die Sowjetunion 1941 zog sich die rote Armee allerdings zurück. Rumänien eroberte das Gebiet und begann gemeinsam mit deutschen Truppen mit Deportationen und Exekutionen verschiedener Minderheiten. Der rumänische Premierminister Ion Victor Antonescu sprach sich in dieser Zeit für eine Ausweisung aller Juden und Ukrainer aus, da sie „nicht hier her gehören“. Notfalls solle man gewaltsam vorgehen, auch wenn „Rumänien dadurch als Barbarei in die Geschichte eingeht“.

Zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung Bessarabiens waren zwar schon zuvor geflohen, aber bis zur Rückeroberung durch die Sowjetunion im Jahr 1944 waren viele Zehntausend Menschen auf dem Gebiet der heutigen Republik Moldau ermordet wurden. Als der zweite Weltkrieg endete, waren die meisten Synagogen und andere religiöse Orte zerstört und die jüdische Kultur fast aus dem Land verschwunden.

In der Moldauischen Sozialistischen Sowjetrepublik folgte man in Punkto Religion den Vorgaben der Sowjetunion. Zu Beginn wurde noch die Ansicht vertreten, dass Religion als Konzept nach der Aufklärung der Bevölkerung von alleine verschwinden würde, und die Verfassungen garantierten Religionsfreiheit. Als sich dann aber zeigte, dass die Religionsgemeinschaften nicht verschwanden und eine Konkurrenz zur sozialistischen Partei darstellten, setzten sich immer stärkere Religionsverbote durch. Die russisch-orthodoxe Kirche wurde letztendlich für die Bildung einer sowjetisch-vaterländischen Identität ausgewählt und alle anderen Glaubensrichtungen verboten.

Die jüdische Bevölkerung war in Moldau bis 1970 wieder auf 98.001 Mitglieder angewachsen. Wegen der Einschränkungen wanderten aber immer mehr davon nach Israel aus, die letzte Zählung vor dem Mauerfall 1989 weist nur noch noch 65.672 Mitglieder aus. 1964 war nur noch eine einzige der ehemals 77 Synagogen geöffnet, diese wird auch heute noch genutzt. 2014 ging man nach Schätzungen von nur noch 15.000 Bürgern jüdischen Glaubens in der gesamten Republik Moldau aus, wovon etwa 10.000 in Chișinău lebten. Dies entspricht etwa einem Fünfundzwanzigstel des Standes von 1903. Kleine Vereine versuchen, einige Synagogen zu restaurieren, dies ist aber aufgrund der nur noch sehr geringen Mitgliederzahlen sehr schwierig.

Im Moment existieren noch zwei jüdische Friedhöfe in Chișinău. Der erste ist Teil des großen Stadtfriedhofs St. Lazar im Nordwesten der Stadt.

Dieser Artikel behandelt den zweiten an der Strada Milano. Die ältesten Gräber stammen aus dem 19. Jahrhundert, einige sehr wenige wurden nach dem Jahr 2000 errichtet. Ein Verein übernimmt die Bezahlung eines Grabpflegers, das Gelände ist aber mit etwa einer Million Quadratmeter und geschätzt 24.000 Gräbern so groß und umfangreich, dass kaum mehr als die Gräber direkt am Eingang gepflegt werden können. Entfernt man sich nur wenige Meter von der Straße am Eingang, haben Natur und Wetter bereits gewonnen. Manche Teile sind so überwuchert, dass diese nicht mehr zugänglich sind.

Trotz der Existenz einer Mauer mit Eisentor und der Anwesenheit des Grabpflegers kommt es immer wieder zu Übergriffen. Im Jahr 2002 zerstörten zwei Jugendliche etwa 50 Grabsteine, den polizeilichen Ermittlungen nach aus Langeweile. Im April 2013 drangen illegale Holzfäller in das Gelände ein und begannen damit, Bäume zu fällen. Bei den Arbeiten wurden viele Gräber durch umfallende Bäume zerstört, einige Wege sind noch bis heute blockiert. Der Bürgermeister der Stadt kündigte 2015 an, die Synagoge auf dem Gelände wieder in Stand setzen zu wollen, bei unserem Besuch Mitte 2017 war das dafür notwendige Geld aber noch nicht zusammengekommen.

Um diesen Ort etwas besser zu dokumentieren und die vielen Verbindungen zur deutschen und anderen Kulturen aufzuzeigen, habe ich versucht, die Inschriften (soweit es mir möglich war) zu übersetzen. ich kann Kyrillisch und etwas Russisch und Rumänisch lesen, allerdings kann ich kein Hebräisch.

Kyrillisch: „КАПЛАН Иосиф Наумович“
Lateinisch: „KAPLAN, Iosif Naumovich“

Kyrillisch: „ШОР ФАНЕЧКА“
Lateinisch: „SHOR FANESHKA“

Kyrillisch: „ТРОСТЯНЕЦКИЙ Арон-Нахман Вольфович“
Latein: „TROSTJANETZKIJ Aron-Nahman Vol’fovich“

Kyrillisch oben: „ШУСТЕР Герш Абрамович“
Lateinisch oben: „SCHUSTER Gersch Abramovich, geliebter Vater und Großvater“

Kyrillisch unten: „ШУСТЕР Дора Самоиловна“
Lateinisch unten: „SCHUSTER Dora Samoilovna, geliebte Mutter und Großmutter“

Kyrillisch links: „ЧЕРВИНCКИЙ Яков Исраилевич“
Lateinisch links: „CHERVINSKIJ Jakob Israilevich“

Kyrillisch rechts: „ЧЕРВИНCКАЯ РАИСА БОРИСОВНА“
Lateinisch rechts: „CHERVINSKAJA RAISA BORISOVNA“

Kyrillisch: „ПОЛОНСКАЯ Хова Гершевна“
Lateinisch: „POLONSKAJA Hova Gerschevna, geliebte Mutter“

Lateinisch (auf rumänisch): „Reiza Fridman, gestorben am 8. Februar 1937 im Alter von 55 Jahren, Ruhe in Frieden“

Kyrillisch oben: „РОЙТМАН АРОН ЛЕЙБОВИЧ“
Lateinisch oben: „ROJTMAN ARON LEIBOVICH“

Kyrillisch unten: „РОЙТМАН ГОЛДА АБРАМОВНА“
Lateinisch unten: „ROJTMAN GOLDA ABRAMOVNA“

Kyrillisch links oben: „Врач Аибиндер Ребекка Арнолдовна“
Lateinisch links oben: „Doktor Aibinder Rebekka Arnoldova“

Kyrillisch links unten: „Александре Аибиндер“
Lateinisch links unten: „Aleksandre Aibinder“

Kyrillisch rechts: „фИГЛЯР (..unlesbar..)“
Lateinisch rechts: „FIGLJAR (..unlesbar..)“

Ob dieser Baum während der illegalen Waldarbeiten im Jahr 2013 gefällt wurde, ist mir nicht bekannt. Die Bruchstelle sah allerdings nicht aus, als ob diese schon vier Jahre alt wäre.

Kyrillisch: „КАНТОР Рахил Шулемовна“
Lateinisch: „KANTOR Rahil (Rachel?) Schulemovna“

Kyrillisch: „Леитенант БОГУСЕВИЧ“
Lateinisch: „Leutnant Bogusevich“, ganz offensichtlich bei der Luftwaffe.

Innenansichten der Friedhofssynagoge, welche der Bürgermeister seit 2015 restaurieren lassen möchte.

Spuren von Vandalismus werden hier eher durch die Witterung als aktiv entfernt…

Die Natur hat sich diesen Raum auf jeden Fall wieder zurückerobert. Eine so schöne Östliche Smaragdeidechse haben wir während des kompletten Aufenthalts in Moldau nicht wieder gesehen.

 

Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.

4 Kommentare

  1. Gratulation zu dieser sorgfältigen Arbeit. Wir waren auch auf dem Friedhof und wissen es zu schätzen, dass ihm mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird! Evi

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.