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Es war ein grauer Sonntag, es regnete mal wieder, aber heute sollte es endlich losgehen. 1668 Kilometer in der Transsibirischen Eisenbahn von Jekaterinburg nach Moskau. Gegen 9:20 Uhr morgens kam ich am Bahnhof an, und Zug Nummer 15 stand schon auf der Abfahrtstafel.
Aber Moment – was war hier los? Es war 9:20 Uhr, aber der Zug war schon um 8:12 Uhr abgefahren? Hatte ich ihn etwa verpasst? Und warum war prangte da rechts oben groß „7:20“?
Die Überraschung: In Russland kann man durch das Betreten eines Bahnhofs ganz einfach durch die Zeit reisen, und das nicht nicht wegen der Architektur 😉
Das Land hat hat eine Ost-West-Ausdehnung von etwa 8.000 Kilometern und liegt in insgesamt elf Zeitzonen. Die Transsibirische Eisenbahn allein durchfährt sieben davon. Um Verwirrung zu vermeiden (oder, je nach Perspektive, zu fördern…), werden im Bahnverkehr sämtliche Uhrzeiten in Moskau-Zeit (UTC+3) angegeben. Die meisten Bahnhöfe liegen östlich von Moskau, man kommt also im Zweifel eher zu früh an den Bahnhof als zu spät.
Jeder einzelne Wagon hat eine eigene Begleiterin, welche für ihre Passagiere zuständig ist. Meine Wagonbegleiterin stand sich wie alle anderen im Regen die Beine in den Bauch und sprach wirklich kein einziges Wort Englisch. Die Ticketkontrolle klappte aber noch ganz gut, und mein Abteil fand ich auch alleine.
Es ging geschäftig zu. Zug Nummer 15 fährt nur von Jekaterinburg nach Moskau und nicht die komplette Strecke ab Wladiwostok. Die russische Eisenbahngesellschaft gibt eine Auslastung von angeblich 96% für die Transsibirische Eisenbahn an, und Tickets für den Sommer sind oft Monate im voraus ausgebucht. An diesem Sonntag war aber nicht viel los, Ich hatte mein Abteil komplett für mich allein.
Der Zug fuhr auf die Sekunde genau ab. Ich verbrachte die ersten Stunden in meinem Abteil und ließ einfach die Landschaft an mir vorbeiziehen…
Als erstes galt es das Uralgebirge zu überwinden. „Gebirge“ ist allerdings vielleicht ein bisschen viel gesagt. Der höchste Berg ist die 1895 Meter hohe Narodnaja (Народная) kurz vor dem Nordpolarmeer ganz im Norden. In Richtung Süden wird der Ural flacher, die meisten Berge liegen unter 1500 Meter, und auf der Höhe von Jekaterinburg muss man eher von „Hügeln“ sprechen. Mein Zug würde es nicht auf mehr als 450 Höhenmeter schaffen.
Sehr viele Menschen auf dem Land leben in eher ärmlichen Verhältnissen. Ein kleines Grundstück, ein altes Haus aus Holz. Die meisten bauen im kleinen Garten oder einem Gewächshaus Gemüse an. Manche Häuser standen kurz vor dem Verfall, aber man weiß in Russland eben nie, ob nicht doch noch jemand darin wohnt.
In der Gegend um Jekaterinburg fallen übrigens nur knapp 500 Millimeter Niederschlag im Jahr. Das ist auch nicht mehr als an manchen Küsten am Mittelmeer!
Was sich wohl in diesem „Bunker“ befindet?
Als wir das Uralgebirge hinter uns gelassen hatten, tat sich vor uns die endlose Osteuropäische Ebene auf. Von hier aus könnte man die nächsten 3.000 Kilometer ohne große Erhebungen bis nach Polen durchfahren. Zwischen Jekaterinburg und Moskau liegen keine Hundert Höhenmeter Unterschied, Sarapul liegt mit seinen 80 Höhenmetern kaum höher als mancher Ort in den Niederlanden.
Es ging also durch endlose Waldsteppe mit Birken und Sümpfen. Wahrscheinlich ein Paradies für Biber! 2015 soll ein Biber ein Kabel angenagt und damit einen Teil der Transsibirischen Eisenbahn lahmgelegt haben. Glücklicherweise hatten wir keine Verspätung, aber ich meinte immer mal wieder, an der einen oder anderen Stelle einen kleinen Biberdamm gesehen zu haben…
Zwischen zwei Siedlungen kann schnell eine halbe Stunde oder mehr Zeit vergehen. Der Zug hält auf den 1668 Kilometern nur zehn Mal, in Druzhinino (Дружинино), Krasnoufimsk (Красноуфимск), Yanaul (Янаул), Sarapul (Сарапул), Agryz (Агры́з), Kasan (Каза́нь), Kanash (Кана́ш), Sergach (Серга́ч), Murom (Му́ром) und am Kasaner Bahnhof (Казанский вокзал) in Moskau.
Ohne Landkarte und Anhaltspunkte verlor ich mich schnell in der Landschaft, bis irgendwann der Magen knurrte. Zeit fürs Mittagessen!
Für die Verpflegung unterwegs gibt es zwei Möglichkeiten. Wer Geld hat, geht in das Bordrestaurant. Wer kein Geld hat oder etwas mehr Abwechslung wünscht, packt den eigenen Koffer mit Lebensmitteln voll. Ich hatte mich für die zweite Option entschieden, schaute dann aber doch mal im Restaurant vorbei.
Wer möchte, kann sich hier auch mit frischen Zutaten bekochen lassen, allerdings bezahlt man dafür grob das fünf- bis zehnfache der üblichen Preise. Eine Tasse Tee kostete 150 Rubel (ca. 2,50 € ), im Fast-Food-Laden an der Straße bezahlt man dafür meist nur 15 bis 20 Rubel. Angeblich wird die Speisekarte auf der Strecke von Wladiwostok nach Moskau immer kürzer, weil unterwegs die Zutaten ausgehen. Ich habe mir auch sagen lassen, dass die Portionen auf der Strecke der Chinesischen Osteisenbahn (Abschnitt Peking – Wladiwostok) sehr viel größer sein sollen.
Ich setzte mich mit meinem Tee an ein Fenster und lief einfach die Kamera laufen. Die poppige Hintergrundmusik kam übrigens vom Laptop des Barkeepers/Kochs 🙂
Ein Extrapunkt für so viel Kreativität 😉
Nach einer halben Stunde hatte ich die russische Popmusik etwas satt und ging zurück in mein Abteil. Dort lief ich zum ersten Mal meinen Mitreisenden über den Weg. Shria war Inderin, Ende 20, lebte in Singapur und war alleine unterwegs. Sie hatte ihre Reise in der Monglei begonnen und unterwegs in Irkutsk und Jektaerinburg Halt gemacht. Sergey und seine Frau Yulia, ein älteres russisches Ehepaar, hatten ihren Sohn in Jekaterinburg besucht und waren auf dem Heimweg in ein kleines Nest 200 Kilometer von Moskau.
Es gibt nicht viel zu tun, wenn man 27 Stunden in einem Zug unterwegs ist. Wir saßen zusammen in Sergeys und Yulias Abteil, schauten aus dem Fenster und kamen langsam ins Gespräch. Shria hatte Maschinenbau studiert und arbeitete in der Wartung von Flugzeugturbinen. Sergey war studierter Nuklearingenieur und hatte vor der Pensionierung Atomkraftwerke gebaut. Er hatte vor über dreißig Jahren ausnahmsweise zu einem Geschäftstermin in die USA reisen dürfen und dafür sehr gutes Englisch gelernt. Yulia konnte nur recht wenig Englisch, aber mit unseren vereinten Sprachkenntnissen und einer Wörterbuch-App klappte es am Ende doch recht gut.
Sergey und Yulia hatten wie viele Russen ein gesundes Misstrauen gegenüber der Regierung. Sie gestanden Putin aber zu, vieles zum Besseren verändert zu haben. Die Infrastruktur war stark ausgebaut worden, Tschetschenien galt mittlerweile als befriedet, und bis zur Annexion der Krim hatten sich die Beziehungen zum Ausland stark verbessert. Mittlerweile gab es angeblich sogar so viele Tankstellen, dass man auf den Hauptstraßen keinen Zusatztank mehr brauchte. Und die Preise für Flüge waren so stark gefallen, dass viele von der Transsibirischen Eisenbahn auf das Auto oder Flugzeug gewechselt hatten.
Ein wunderbarer Schnappschuss 🙂
Am späten Nachmittag wurde das Wetter noch mal wirklich schlecht, für kurze Zeit steckten wir sogar in einem Schneesturm. Und das Anfang Mai 😯
Nach achteinhalb Stunden Fahrt erreichten wir Agryz (Агры́з) in Tatarstan, einer der autonomen Republiken Russlands. Knapp die Hälfte der Einwohner sind Tataren, 54 Prozent der Bevölkerung sind Muslime. Die tatarische Sprache ist neben Russisch offizielle Amtssprache.
Sergey war voller Bewunderung für die Tataren, ihre Geschichte und die schönen Moscheen. Eine Erinnerung daran, wie gut viele Muslime in Russland in die Gesellschaft integriert sind. In Kasan steht mit der Kul-Scharif-Moschee sogar die größte Moschee Europas.
In Argyz wurde der Zug nicht nur mit Wasser betankt. Die russische Eisenbahngesellschaft (Российские железные дороги РЖД, Rossijskije schelesnyje dorogi RŽD) hat sechzehn Regionalabteilungen, und an den Grenzen zwischen den Regionen werden die Lokomotiven gewechselt.
Früher wimmelte es an den Bahnhöfen von Verkäufern, denn im Zug gab es ja nur das teure und eintönige Bordrestaurant oder die Lebensmittel aus dem Koffer. Allerdings gab es auch immer wieder Fälle von Lebensmittelvergiftung, und die Eisenbahngesellschaft hat strengere Regeln erlassen. Wieder ein Abenteuer weniger 🙁
Sergey überraschte uns kurz nach der Abfahrt mit einem komplett gedeckten Tisch mit Brot, Tee und Fisch! Das Brot kam aus dem Koffer, der Fisch vom Verkäufer am Bahnhof, und das heiße Wasser für den Tee konnte man rund um die Uhr aus einem großen Tank am anderen Ende des Waggons abfüllen. Der Fisch war ein geräucherter Beluga-Stör. Eigentlich wird er hauptsächlich wegen des Beluga-Kaviars gefischt, allerdings schmeckt er auch super 🙂
Die vielen Eindrücke machten mich irgendwann müde, und es war Zeit fürs Bett. Dieses wird einfach aus der Wand geklappt und ist in Null Komma Nichts fertig bezogen.
Nächstes Mal gibt es dann endlich Bilder vom Tag des Sieges in Moskau 🙂
Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.
Toller Bericht. In welcher Klasse sind Sie gereist?
Vielen Dank 🙂 Das Reisebüro hatte mir recht günstig einen Platz in der ersten Klasse (Wagen Nummer 10) besorgt, was allerdings nicht notwendig gewesen wäre. Es war ja recht wenig los und die erste und zweite Klasse unterscheiden sich nur in der Anzahl der Betten (zwei oder vier) pro Abteil. Im Prinzip hätte ich mich für die 27 Stunden auch in die dritte Klasse gelegt, wäre sicher spaßiger gewesen, aber da hatte ich dann doch etwas „Bauchschmerzen“ wegen dem teuren Fotoequipment.
Die Fotos sind der Wahnsinn.. Hab den Blog gerade entdeckt und bin nach dem ersten Artikel schon so begeistert von den Fotos, bin gespannt auf die anderen Artikel. Toller Schreibstil!
Danke, über das Lob freue ich mich wirklich sehr 🙂 Die Fotos wurden im Verlauf der Reise immer besser, ich hatte einen Monat vor dem Abflug nach Russland von einer Mittelklasse-Spiegelreflex auf die Oberklasse gewechselt (Siehe unter „Ausrüstung“) und es hat dann doch eine Weile gedauert, bis ich wieder alles im Griff hatte. Gerade in Jekaterinburg hätten einige Fotos sehr viel besser werden können.
Es gibt auch noch ein Nebenprojekt mit meinen Konzert- und Eventfotos, siehe https://www.facebook.com/raiuraiustudios/ .
Ein wirklich toller Bericht! Als Vielreisende, auch dreimal in Russland, steht die Transsibirientour bislang noch auf meiner Wunschliste. Dank Ihrer sehr guten Fotos, der hervorragenden Texte (wirklich toller Schreibstil!) und Ihres informativen Videos konnte ich heute Abend schon eine kleine transsibirische Reise von der Couch aus machen. Super! Vielen herzlichen Dank! Und viele weitere, schöne Reisen für Sie!
Vielen Dank, sowas hört man doch gerne 🙂