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Die ersten drei Nächte verbrachte ich im NovoTel Ekaterinburg Center. Das Hotel liegt in der Innenstadt, das Zimmer kostete 57 € pro Nacht und war sehr geräumig, und der junge Mann an der Rezeption sprach überraschenderweise sogar fließend Italienisch.
Vom Fenster aus waren das TransHotel, eines der ältesten Hotels in Jekaterinburg, und der Wolkenkratzer „Vysotsky“ („Высоцкий“) zu sehen. Das Wetter war schon am frühen Morgen kein bisschen besser als in Deutschland, und leider würde das die nächsten Tage über auch so bleiben.
Wer der Ansicht ist, dass ein englisches Frühstück leicht mit einer Hauptmahlzeit verwechselt werden kann, der sollte es mal mit einem russischen Frühstück versuchen. Gebratene Hühnerbrust, Speck, Frikadellen in dicker Soße, frittierter Hüttenkäse, Pfannkuchen, bunter Salat… man möchte meinen, die Russen wären sich nicht ganz sicher, ob vor dem Mittagessen nicht doch noch ein Atomkrieg ausbricht 😉
Jekaterinburg ist für die meisten Touristen aus dem Ausland eher unbedeutend, nur wenige halten sich wie ich gleich zwei volle Tage in der Stadt auf. Und ich selbst bin ja auch nur hier gelandet, weil ich nach einem passenden Ausgangspunkt für meine Fahrt mit der Trans-Sibirischen Eisenbahn gesucht habe.
Der Stadtverwaltung ist dieser Umstand bewusst, und um es den wenigen Touristen leichter zu machen, hat man einfach eine rote Linie auf die Bürgersteige gepinselt. Die „Красная линия“ („rote Linie“) führt auf einer Länge von etwa sechs Kilometern ein Mal im Kreis an allen wichtigen Sehenswürdigkeiten vorbei.
Ich begann meinen Rundgang direkt hinter dem Hotel und stieß sofort auf das „Keyboard Monument“, eine der wohl etwas ungewöhnlicheren Sehenswürdigkeiten. Dieses 2005 von Anatoly Vyatkin am Ufer des Isset errichtete Monument besteht aus 104 aus Beton gegossenen „Tasten“, welche zusammen eine russische Computertastatur dastellen.
Das Monument gilt als eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten der Stadt, und mit den Jahren haben sich verschiedene Legenden darum gebildet. Wer etwa seinen Wunsch „eintippt“, kann ihn durch die Betätigung der „Enter“-Taste in Erfüllung gehen lassen. Wer mit seinem Leben unzufrieden ist, drückt Ctrl-Alt-Del für einen Neustart. Im Jahr 2011 wurden sogar mehrere Tasten gestohlen, bei 180 Kilo Gewicht pro Taste sicher kein einfaches Unterfangen!
Ich folgte der roten Linie weiter im Uhrzeigersinn Richtung Bolschoi-Slatoust-Kirche. Unterwegs gab es allerhand moderne und alte Kunst zu bestaunen.
Die Bolshoi-Zlatoust-Kirche („Большой Златоуст“, „Großer Chrysostom“) wurde nach Johannes von Antiochia benannt. Er gilt als einer der größten Prediger des Christentums und ist heute unter seinem Beinamen Chrysostomos („Goldmund“) bekannt.
Nicht weit von der Kirche liegt der Arbat („Арба́т“), ein früher traditionell von Handwerkern bevölkerter Stadtteil. Heute befindet sich dort eine von vielen Gold- und Schmuckhändlern gesäumte Einkaufsstraße.
Wer etwas aufmerksam durch die Stadt geht, stolpert immer wieder über Bronzestatuen verschiedener Künstler. Diese stehen nicht nur an Straßenecken, sondern beispielsweise auch in der „Pokrovsky Pasaszh“, dem nahen Einkaufszentrum, welches direkt am „Platz des Jahres 1905“ („Площадь 1905 года“) liegt.
Der Name des Platzes erinnert an die Russische Revolution von 1905, eine der vielen Revolutionen in der Geschichte Russlands, ausgelöst hauptsächlich durch den Petersburger Blutsonntag und den russisch-japanischen Krieg. Erst seit dieser Revolution gibt es in Russland die Staatsduma und das Mehrparteiensystem.
Überall im Stadtbild zu sehen: Die typischen Sowjet-Straßenbahnen. Aber dazu später mehr.
Am Platz des Jahres 1905 steht das Denkmal für einen ganz besonderen Revolutionär: Товарищ Ленин („Kamerad Lenin“) steht auf einem hohen Sockel und schaut in die Ferne.
Ich bin dann mal unterwegs, mit Товарищ Ленин Produktionsmittel enteignen und so. Könnte dauern…
Aber Spaß beiseite. Ich folgte der roten Linie weiter, entlang der nach Lenin benannten Hauptstraße проспект Ленина („Prospekt Lenina“). Diese führt an dieser Stelle über eine sehr breite, ähnlich einem See ausgebildete Stelle des Isset und an der Плотинка („Plotinka“), einer großen Parkanlage, vorbei.
Eine Panoramaaufnahme der Wasserfläche, am Horizont die wenigen Wolkenkratzer der Stadt.
An dieser Stelle befindet sich auch das „Haus N.I. Sevastyanova“ („Дом Севастьянова“). Dieses historische Gebäude hat eine sehr wechselvolle Geschichte hinter sich, zwischendurch war es beispielsweise der Sitz eines Gerichts, trug auch mal eine Neon-Leuchtschrift mit dem Spruch „Ehre der Arbeiterklasse“ auf dem Dach, oder diente kurzzeitig als Wohnsitz des russischen Präsidenten. 2008 wurde die Fassade auf einer 3-Rubel-Silbermünze verewigt.
Vor dem nahen Postgebäude befindet sich der „Kilometer Null“, von welchem aus alle Distanzen innerhalb des Oblast Swerdlowsk („Свердловская область“, „Gebiet Swerdlowsk“) gemessen wurden. Jekaterinburg ist auf der Markierung noch mit dem Namen „Swerdlowsk“ vermerkt, welchen die Stadt von 1924 bis 1991 zu Ehren des früheren sowjetischen Staatsoberhauptes Jakow Michailowitsch Swerdlow trug. Lange im Amt gehalten hat sich Swerdlow allerdings nicht – er regierte ab November 1917, starb aber schon im Februar 1919 im Alter von nur 34 Jahren an der spanischen Grippe.
Nur wenige Straßen weiter liegt das ehemalige „Literatenviertel“, in welchem sich heute viele kleine Museen befinden. Ich besuchte das Музей „Литературная жизнь Урала XX века“, grob übersetzt das „Museum des Literaturlebens im Ural des 20. Jahrhunderts“. Es ist in einem schönen alten Holzhaus in der Proletarskaja-Straße Nummer 10 untergebracht und besteht aus nur vier Räumen, welche sich allerdings von der Gestaltung her nicht hinter viel größeren europäischen Museen verstecken müssen.
Die russischen Autoren des 20. Jahrhunderts hatten alle kein leichtes Los gezogen: Revolutionen, erster Weltkrieg und Bürgerkrieg, Revolution und Kommunismus, zweiter Weltkrieg, Kommunismus. Fast jeder hatte irgendwann eine Waffe in der Hand, musste irgendwo hin fliehen oder wurde vom Staatsapparat unterdrückt. Die Kriegserfahrungen spiegeln sich in vielen Schriften wider, und im Kommunismus konnte vieles nur „zwischen den Zeilen“ erwähnt werden.
Nach so viel Bildung war es Zeit für eine Stärkung. Die Bausteine der russischen Küche lassen sich meiner Ansicht nach mit den Worten „Alles, was man auf einem Bauernhof finden würde“ zusammenfassen: Fleisch, Getreide, Milch, Honig, Kartoffeln, Obst, Kraut, je nach Ort auch Wild und Fisch.
Während sich die reiche Oberschicht ab dem 17. Jahrhundert ausländischen Gerichten und Spezialitäten zuwandte, blieben Fleisch, Bliny („Блины“, Pfannkuchen), Piroggen („пирог“, gefüllte Teigtaschen), Eintöpfe und Suppen bis zum Ende der Sowjetunion die „Grundpfeiler“ der Küche der einfachen Leute. Durch den Bau der Trans-Sibirischen Eisenbahn ab 1891 wurden Spezialitäten wie Buckellachs und Rentierfleisch erschwinglicher, in der Sowjetunion verarmten die Speisepläne dann aber durch Gemeinschaftsverpflegung wieder sehr stark.
Heute existieren in den Städten natürlich Restaurants aller Preisklassen sowie Filialen aller international bekannten Fast-Food-Ketten, trotzdem wird an fast jeder Ecke das traditionelle russische Gebäck verkauft. Ich entschied mich für eine mit Kartoffelpüree und Fleisch gefüllte Pirogge, dazu wurde Kaffe oder Tee serviert. Der Preis lag bei umgerechnet kaum einem Euro.
Frisch gestärkt ging es weiter zur Kathedrale auf dem Blut („Храм на Крови“), der wohl bekanntesten Sehenswürdigkeit von Jekaterinburg. Diese Kathedrale wurde an dem Ort errichtet, an welchem der letzte Zar und seine Familie nach der Oktoberrevolution 1918 exekutiert wurde.
Ursprünglich stand an dieser Stelle keine Kathedrale, sondern das Wohnhaus der Familie Ipatjew. Nach der Enteignung durch die Bolschewiki diente das Haus als Gefängnis für die Zarenfamilie und nach deren Exekution für verschiedene andere Zwecke. Im Juli 1977 befahl ein gewisser Boris Jelzin den Abriss des Hauses, angeblich um zu verhindern, dass es sich zur Touristenattraktion enwickeln könnte. Die heute Kathedrale wurde erst in den Jahren 2002 und 2003 errichte.
Danach war ich für diesen Tag geschafft und machte mich auf den Weg zurück in Richtung Hotel.
Russische Ampelmännchen sehen nicht nur etwas anders aus, sehr nützlich ist auch die Anzeige der verbleibenden Wartezeit. Entgegen aller Warnungen geht es zumindest in den Städten im Straßenverkehr sehr ruhig und geordnet zu.
Ob man im LEGOLAND wohl schon mitbekommen hat, was in diesem Laden verkauft wird?
Die in Sowjet-Zeiten stark ausgebaute Versorgung mit Fernwärme ist in Städten immer noch sehr weit verbreitet.
Kurios: CCCP-Eiskrem, komplett mit Sputnik.
Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.