Die Straßen von Lwiw

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Die Ukraine ist ein sehr großes Land. Wenn man nicht beliebig viel Zeit zur Verfügung hat, muss man sich gut überlegen, welche Teile davon man sehen will. Unsere Entscheidung war auf die Strecke Tschernobyl-Kiew-Odessa gefallen, also ein mal von Norden nach Süden und zurück.

Lwiw liegt aber irgendwo ganz links an der Grenze zu Polen und so ganz und gar nicht auf dieser Achse. Eigentlich wollten wir auch gar nie nach Lwiw. Trotzdem fielen wir am ersten Tag unserer Tour durch die Ukraine genau hier aus dem Flieger. Und wer war Schuld daran? Die UEFA!

Es ist Endspiel, und alle gehen hin

Ein Mal in die Ukraine fliegen und Tschernobyl sehen, das war schon seit vielen Jahren der Plan gewesen. Als es dann endlich so weit sein sollte, ging aber erst mal alles schief. Wirklich alles. Das AirBnB in Kiev? Wenige Tage vor unserer Ankunft storniert. Der Mietwagen? Ebenfalls storniert. Alternativen? Keine. Wirklich gar keine. Zwei Tage vor der geplanten Ankunft in Kiew stand ich auf dem Seitenstreifen einer belarussischen Autobahn, hatte gerade so einige Euro in grenzüberschreitende Telefonate investiert und verfluchte die UEFA.

Kiev war der Austragungsort des UEFA Champions League Finales 2018, und niemand hatte mit einem derartigen Ansturm der ausländischen Fußballfans gerechnet. Die überraschten Ukrainer versuchten nur noch, ihre Unterkünfte und Mietwagen zum höchstmöglichen Preis loszuwerden – auch falls dafür bestehende Buchungen kurzfristig storniert werden mussten. Die Hotelpreise waren teilweise auf das 100-fache des Üblichen gestiegen, der Flughafen mit den vielen Charter-Flügen überfordert. So mancher Fußballfan erfuhr erst nach der Landung am internationalen Flughafen Boryspil (Міжнародний аеропорт «Бориспіль»), dass er gar keinen Platz zum Schlafen mehr hatte. Die Stadtbevölkerung öffnete spontan die privaten Wohnungen und nahm viele der Gestrandeten auf Sofas und in Gästezimmern auf.

Für uns war das aber ganz sicher keine Option. Wir mussten schnellstens raus aus Kiev, zumindest bis nach dem Endspiel. Noch auf dem Standstreifen in Belarus packte ich mein Notebook aus, buchte mich ins Mobilfunknetz ein und fand eine Lösung. In einem Flieger nach Lwiw waren noch zwei Plätze frei. Der Rückflug nach Kiev zwei Tage später war bereits ausgebucht, aber bei der ukrainischen Eisenbahngesellschaft (Укрзалізниця, Ukrsalisnyzja) gab es noch Tickets. Ein kleiner Umweg von schlappen 1.000 Kilometern. Aber so ist das eben manchmal auf Reisen. Immer noch besser als in Japan, damals hatte ein Supertaifun ja einen kleinen Umweg von ganzen 3.000 Kilometern nach sich gezogen…

Zum Grand Hotel Sowjet, bitte!

Lwiw ist nicht nur bei polnischen Touristen sehr beliebt, sondern die meistbesuchte Stadt der Ukraine und eine der am häufigsten besuchten Städte der Welt. Kurzfristig noch eine günstige Unterkunft zu finden war daher ein größeres Problem. Alle guten Hotelzimmer in der Innenstadt waren bereits ausgebucht oder überstiegen unser Budget deutlich. Da wir nun sowieso schon an den Stadtrand ausweichen mussten, wählte ich einfach ein Hotel, welches an einem günstigen Schnittpunkt zwischen Straßenbahnnetz und Flughafen-Oberleitungsbus lag. Mit 19,50 Euro pro Nacht und Einzelzimmer war das Hotel Tourist (Турист) auch nicht teurer als die meisten anderen Unterkünfte in der Ukraine.

Hätten wir geahnt, wie heruntergekommen der Schuppen sein würde, hätten wir liebend gerne woanders das Doppelte bezahlt…

Die Bausubstanz stammte wahrscheinlich noch aus den 1960ern, das Mobiliar ganz sicher noch von vor dem Mauerfall. An den Decken prangten Wasserflecken, über manche Wände zogen sich Kratzspuren von undefinierbarer Farbe. Der Aufzug wirkte so alt und schäbig, dass wir nach der ersten Fahrt nur noch die Treppen benutzten. Im vierten Stock hatte jemand eine Zahnarztpraxis eingerichtet. Aber wir waren hundemüde, würden sowieso den ganzen Tag unterwegs sein und nur zwei Nächte bleiben. Also nahmen wir es hin. Immerhin waren die Badezimmer in Ordnung und die Betten weich.

Ob die Hotelleitung unseren Vorschlag, den Bau in ein „Sowjet-Erlebnishotel“ oder eine Filmkulisse für osteuropäische Horrorfilme umzuwandeln, befolgt hat, wissen wir leider nicht 😉

Lwow, Lwów, Lemberg oder Lwiw?

Lwiw wurde Mitte des 13. Jahrhunderts vom altrussischen Fürsten Daniel Romanowitsch von Galizien gegründet und nach dessen Sohn Lew (Löwe) auf den Namen Lwow getauft. Der Löwe ist immer noch Teil des Stadtwappens, und es gibt zahlreiche Löwenskulpturen im Stadtbild.

Wie fast alle anderen Städte in der Region wechselte Lwow öfter den Besitzer und auch den Namen. Die Polen nannten die Stadt Lwów, die Habsburger und die Deutschen Lemberg. Im und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das nun wieder in Lwow umbenannte Lemberg Teil der Ukrainischen Sowjetrepublik. Seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991 heißt die Stadt Lwiw (Львів). Ausgesprochen wird der Name allerdings „Lviu“.

Das heutige Lwiw

Unser Hotel lag etwa drei Kilometer von der Innenstadt entfernt, also mussten wir erst mal dort hin kommen. Der Nahverkehr von Lwiw umfasst eine Straßenbahn mit elf Linien, Oberleitungsbusse und normale Busse. Wir konnten alle wichtigen Punkte mit der Straßenbahn und zu Fuß erreichen und sind nur vom Flughafen bis zum Hotel mit dem Oberleitungsbus gefahren.

Die Lwiwer Straßenbahn entstand ab 1880 und geht damit noch auf die Zeit unter der Herrschaft Österreich-Ungarns zurück. Sie ist die Älteste der Ukraine. Eine einfache Fahrt kostet 5 Hrywnja (ca. 15 Euro-Cent), aber Achtung: für größere Gepäckstücke ist eine eigene Fahrkarte zu lösen. Die Kontrolleure werden als wenig zimperlich beschrieben!

Fahrkarten kauft man beim Einsteigen beim Fahrer. Bei längeren Aufenthalten lohnt sich eine Zeitkarte.

Eine Besonderheit sind die Fahrscheinentwerter. Man steckt die Fahrkarte in den Schlitz und drückt den Hebel nach unten, wodurch eine Reihe von Nadeln durch das Papier gestochen wird. Jedes Ticket ist nur für eine einzige Fahrt auf einer einzigen Linie gültig, jede Linie hat ein eigenes Nadelmuster. Die Kontrolleure können also mit einem geübten Blick sofort feststellen, ob das vorgezeigte Ticket in einem Fahrzeug einer anderen Linie entwertet wurde und der Fahrgast betrügen will.

Das Straßenbahnsystem funktionierte ganz gut. Falls nicht, wurde mit einem LKW und einer Stange nachgeholfen…

Das historische Stadtzentrum ist seit 1998 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Die Bauten aus dem 19. und 20. Jahrhundert haben zwei Weltkriege fast unbeschadet überstanden. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man fast meinen, in einer beliebigen europäischen Kleinstadt gelandet zu sein.

Fast schon ein bisschen zu europäisch, das Ganze, oder? Wirklich wundern darf man sich darüber allerdings nicht. Lemberg war spätestens ab dem 17. Jahrhundert eine wichtige Industrie-, Kultur- und Handelsstadt mit einer eigenen Universität. Die Österreichisch-Ungarische Monarchie regierte die Stadt vor dem Ersten Weltkrieg fast 150 Jahre lang. Man stand der „typisch mitteleuropäischen“ Kultur also immer schon viel näher als viele weiter östlich gelegene Städte.

An Statuen von nationalen Berühmtheiten mangelt es im Stadtbild nicht. Ein Publikumsmagnet ist jene des polnischen Malers Epifany Drovnyak, besser bekannt als „Nikifor“. Er malte im Laufe seines Lebens über 40.000 Bilder, verkaufte die meisten aber spottbillig an Kurgäste und lebte lange Zeit als Analphabet in extremer Armut. Erst wenige Jahre vor seinem Tod wurde er weltweit berühmt. Das Berühren der Nase und des ausgestreckten Fingers soll angeblich Glück bringen 🙂

Nicht weit von Nikifors starrt Taras Schewtschenko (Тарас Шевченко) grimmig auf die Passanten. Er gilt als der bedeutendste ukrainische Lyriker, und ohne ihn würde es die heutige Ukraine wahrscheinlich auch gar nicht geben.

Die Ukrainer existierten als Volksgruppe zwar schon seit Jahrhunderten, waren aber über Österreich-Ungarn und Russland verstreut und wurden unterdrückt. Schewtschenko legte den Grundstein für die moderne ukrainische Literatur, die moderne ukrainische Sprache und das Erwachen des ukrainischen Nationalbewusstseins. Letzteres führte schließlich zur Ausrufung der Ukrainischen Volksrepublik, der Ukrainischen Sowjetrepublik und der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Sein Grabmal in Kaniw (Канів) gilt heute als nationales Heiligtum.

Bis zum Zweiten Weltkrieg stellten Polen mehr als 50% der Stadtbevölkerung. Nach 1945 wurden die meisten aus Lwiw vertrieben und im Laufe der Jahre fast alle Hinweise auf ihre frühere Existenz entfernt.

Ein gutes Beispiel für die „westliche“ Ausrichtung der Stadt ist auch das ab 1897 erbaute Lemberger Opern- und Ballettheater (Львівський Національний академічний театр опери та балету, Lʹvivsʹkyy Natsionalʹnyy akademichnyy teatr opery ta baletu). Der Architekt ließ sich bei der Planung von der Wiener Hofoper inspirieren. Marmorelemente kamen aus Wien, die Leinwände für die Malereien aus Belgien, die elektrische Beleuchtung von Siemens, die Bühnentechnik aus Polen. Bezahlt wurde in österreichischen Kronen.

Auch die berühmte Kathedrale und das angeschlossene Kloster des Dominikanerordens bilden keine Ausnahme. Wer die in Osteuropa übliche russisch-orthodoxe Einrichtung erwartet hätte, wird enttäuscht werden. Die Kirche gehört zur griechisch-katholischen Teilkirche und sieht innen wie alle anderen Barockkirchen aus.

Genug alte Gebäude und Kirchen für heute? Genug Touristenkram? Irgendwie langweilig hier? Vielleicht denkt ihr euch auch gerade „Warum kommen die Polen eigentlich alle nach Lwiw, wenn hier alles genau so aussieht wie zu Hause“? Ja, so ging es uns nach den ersten zwei Stunden auch. Definitiv viel zu normal für meine Verhältnisse… 😉

Bevor wir uns aber wie üblich auf die Suche nach dem Ungewöhnlichen machten, mussten wir erst mal etwas essen. Frühstück hatte es im Hotel/Sowjetgefängnis/Horrorverließ natürlich keines gegeben. Unsere Nasen führten uns zu einem georgischen Restaurant namens Tamada in der Armeniergasse, welches Chatschapuri (ხაჭაპური) anbot. Für die Georgier ist Chatschapuri angeblich „ein überbackenes Käsebrot, welches als Zwischenmahlzeit für den kleinen Hunger gegessen wird“. In Wahrheit war das Ding so groß wie ein Teller, etwa vier Zentimeter hoch und mehr als dick mit Käse überbacken. Sehr lecker, aber für eine „kleine Zwischenmahlzeit“ doch ein bisschen reichhaltig… 😯

Die gute Nachricht: Wir mussten gar nicht erst nach dem Ungewöhnlichen suchen. Das Ungewöhnliche lauerte einfach direkt nebenan. Willkommen im östereich-ungarischen Militärrestaurant „Bruderschaft“ (Брудершафт)! Wo das Personal Uniform trägt, das Essen wie damals schmeckt, und im Keller alte Gewehre, Mäntel und anderer Utensilien auf ein Selfie warten 😉

Im Innenhof der königlichen Brauerei stießen wir auf den „Bierbauch der Ukraine“ oder den „Nabel des Bieres“. Was auch immer dieses Kunstwerk aussagen soll – auf jeden Fall muss ein stattlicher Bierbauch dafür Modell gestanden haben 😉

In Lwiw habe ich mich zum ersten Mal verstärkt an Straßenfotografie versucht, um etwas Neues zu lernen und auch mal Menschen auf den Bildern zu haben. Mit dem Ergebnis bin ich recht zufrieden, aber es gab auch sehr viele gute Motive abzulichten. Egal ob in ganz normalen Situationen…

… oder in etwas schrägeren 😉

Mein persönlicher Favorit sind ja alte Autos aus dem ehemaligen Ostblock. 40 Jahre alt, durchgerostet, klapprig und kaputt. Das ist aber nichts, was man nicht mit einer Flasche Wasser und einem Schraubenschlüssel wieder in Ordnung bringen könnte, notfalls auch mal schnell an einer roten Ampel!

Auf dem Markt

Natürlich ist das touristische Zentrum von Lwiw wunderschön, aber man musste nur drei Seitenstraßen weiter gehen, um zu sehen, dass der durchschnittliche Ukrainer sehr viel weniger Geld in der Tasche hatte als die meisten Touristen. Das Durchschnittseinkommen liegt derzeit bei nur knapp 330 Euro im Monat. 40 Prozent der Bevölkerung verdienen sogar weniger als 200 Euro. Ein Restaurantbesuch oder auch nur ein Einkauf im Supermarkt fallen dann oft schon aus dem Rahmen.

Wer ins Ausland fliehen kann, flieht. Die Ukraine gehört zu den am schnellsten schrumpfenden Ländern der Welt. Wer bleibt, verkauft am Straßenrand alles, was man so anbieten kann – Gemüse aus dem eigenen Garten, Blumen, Fisch. Die Szenen erinnerten mich sehr an unseren Besuch in Chișinău ein Jahr zuvor.

Die professionelleren Händler konnten sich Stände auf dem Platz vor dem Arsenal leisten. Hier gab es hauptsächlich Bücher und Antiquitäten aus der Sowjetunion – Gürtelschnallen, Abzeichen, Feldflaschen, Helme, Messer, Kameras, Ferngläser und vieles mehr. Für knapp 20 Euro habe ich eine 50 Jahre alte und noch recht gut erhaltene Mir-Analogkamera aus russischer Produktion erstanden.

Stalins „Fragen des Leninismus“ und Hitlers „Mein Kampf“ nebeneinander auf dem gleichen Tisch. Schon eine sehr seltene Kombination, und dann auch noch Originalausgaben auf Deutsch… 😯

Hoch auf dem Schlossberg

Auf dem etwa 100 Meter über der Stadt gelegenen Schlossberg stand früher das Schloss von Daniel Romanowitsch von Galizien. Heute sind nur noch einige wenige Ruinen davon übrig, aber die Spitze des Hügels ist ein sehr guter Aussichtspunkt. Von hier aus kann man die ganze Stadt überblicken. Und falls man mal wieder das Fernglas im Hotel vergessen hat, kann man einfach eines vom freundlichen Straßenhändler mieten 🙂

Nach einem langen und anstrengenden Tag warfen wir uns in unsere Gefängnisbetten und fuhren am nächsten Tag mit dem Zug nach Kiew. Für die sechs Stunden lange Fahrt im überraschend komfortablen InterCity bezahlten wir 628 Hrywnja (ca. 20 Euro). Viel zu sehen gab es auf den 550 Kilometern leider nicht. Das Land ist vor allem flach und dünn besiedelt.

 

Obwohl der Umweg über Lwiw nicht geplant war und so einigen Stress verursacht hat, waren wir mit der Entscheidung rückblickend doch ganz glücklich. Kiew ist zwar deutlich größer, hatte aber nicht so viel Interessantes zu bieten wie erhofft.

Tschernobyl war eher euer Ding als Lviv? Dann dürften die nächsten Artikel wieder nach eurem Geschmack sein… 😉

Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.

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