Die Saslonow-Kindereisenbahn in Minsk

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Die wichtigste Säule des kommunistischen Arbeiter- und Bauernstaates waren seine Arbeiter und Bauern. Jeder Bürger sollte ein rechtschaffenes Leben führen und früh Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen. Der sogenannte Komsomol (Комсомол, deutsch Kommunistischer Jugendverband) und seine Unter- und Schwesterorganisationen sorgten als Kaderschmiede der Kommunistischen Partei der Sowjetunion für eine entsprechende ideologische Ausbildung von Kindesbeinen an.

Wer sich im Komsomol bewährte, landete später mit größerer Wahrscheinlichkeit auch in der Partei, der Industrie oder dem Bildungsbereich weiter oben. Durch Arbeitseinsätze und verschiedene andere Aktivitäten sollten Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein und Führungsstärke bewusst gefördert werden. Und wie könnte man diese drei Eigenschaften besser trainieren, als Kinder eine komplette Eisenbahnlinie betreiben zu lassen.

Moment. Habe ich da gerade „Kinder betreiben eine Eisenbahnlinie“ geschrieben? 😯

Genau so ist es. Ab 1932 entstanden überall in der Sowjetunion Schmalspurbahnlinien, welche von Kindern und Jugendlichen betrieben wurden. Der Schalterbetrieb, die Abfertigung der Züge, die Steuerung der Weichen und Signale, die Kontrolle der Fahrkarten und sogar die Steuerung der Dampf- oder Diesellokomotiven – all das wurde von Schülern unter 18 Jahren erledigt. Einige wenige Erwachsene überwachten den Betrieb. Die meisten der Bahnen wurden in Parks aufgebaut, um einen echten Fahrgastbetrieb durchführen zu können. Die Mitarbeit beim Betrieb sollte die Kinder auf eine Karriere bei der echten Eisenbahn vorbereiten und wurde oft auch auf die schulischen Leistungen angerechnet.

Von den mehr als 50 Pionier- bzw. Kindereisenbahnen existieren heute nur noch wenige, darunter je eine in Budapest und Minsk. Die übrigen, beispielsweise die 16 in der DDR enstandenen Pioniereisenbahnen, wurden abgebaut oder in normale Parkeisenbahnen umgewandelt. Die Minsker Saslonow-Kindereisenbahn (К.С.Заслонова Дзiцячая чыгунка) fährt bis heute auf ihrem genau 3,79 Kilometer langen Rundkurs vom Bahnhof Saslonowo an der Metro-Haltestelle Moskowskaja (Маскоўская) über den Bahnhof Pionerskaja (Пионерская) zur Haltestelle Sosnowyj Bor (Сосновый Бор) in einem Waldstück und wieder zurück.

Es gibt Zugnummern und Fahrpläne, die Abfahrtszeiten werden peinlich genau eingehalten. Der Fahrplan variiert, je nach Monat herrscht nur am Wochenende oder an mehreren Wochentagen Betrieb. Die Gesamtfahrtzeit beträgt 35 Minuten. Um in Zeiten höheren Betriebsaufkommens Fahrpläne mit Abfahrten alle 22 Minuten einhalten zu können, steht optional ein zweiter Zug zur Verfügung. Beide Garnituren sind optisch leicht unterscheidbar: eine der Diesellokomotive wurde rot lackiert, die andere dunkelblau.

Meine Fahrkarte erstand ich an einem der beiden Schalter am Bahnhof Saslonow. Da es bis zur Abfahrt des Zuges noch 15 Minuten dauern sollte, schaute ich mich in der Zwischenzeit etwas genauer um.

Die Glasscheibe neben dem Fahrplan gab den Blick auf das Stellwerk frei. Die Steuerung läuft originalgetreu ab, neben den Weichen und Signalen gibt es auch eine eigene Funkfrequenz für die Koordination aller Beteiligten. Das Betriebswerk mit dem Lokschuppen ist Teil des Bahnhofs Pionerskaja.

Auch auf der hauseigenen Modelleisenbahn im Nebenraum ging es zu wie in der echten Welt, zwei Jungen dirigierten vom Steuerpult aus mehrere Züge gleichzeitig über die Anlage. Da der Markt für originalgetreue Modelle belarussischer Lokomotiven nicht allzu groß zu sein scheint, war ein Exemplar ähnlicher Größe mit Hilfe eines Bastelbogens umfunktioniert worden… 😉

Damit die angehenden Eisenbahner ganz genau wussten, was später auf sie zukommen würde, wurde auch der ganze „Bürokratiezirkus“ nachgestellt. Jeder der jungen Mitarbeiter hatte einen Dienstgrad und einen eigenen Personalausweis, die Abstimmung der Dienstpläne wurde wohl den Kinder und Jugendlichen selbst überlassen. Trotz des zu erwartenden Chaos schienen sich die „Vorgesetzten“ gut durchsetzen zu können. Hier zeigte sich schon ganz klar, wer später wo in der Hierarchie landen würde… 😉

Die letzten Minuten Wartezeit verkürzte ich mir mit dem örtlichen Unterhaltungsprogramm. Ja, auch dieses wurde von den Kindern selbst gestaltet und dargeboten.

Pünktlich auf die Sekunde fuhr der Zug ein, und die Schaffner machten sich mit strenger Miene an die Kontrolle der Fahrkarten.

Die rote Diesellokomotive vom Typ TU7A tuckerte inzwischen vor sich hin. Der 24 Tonnen schwere Koloss hat immerhin knapp 400 PS und beschleunigt den Zug auf bis zu 15 km/h. Der junge Lokomotivführer trug seine große Verantwortung allerdings recht gelassen.

Die auf dem Fahrplan vermerkte Abfahrtszeit rückte immer näher, und das Treiben auf dem Bahnsteig wurde zunehmend hektischer. Es mochte sich hier nur um eine Kindereisenbahn handeln, aber die Herausforderungen schienen trotzdem die selben zu sein wie beim großen Vorbild. Verspätete Fahrgäste, verwirrende Beförderungsbedingungen, ein Ausländer mit einer Kamera irgendwo außerhalb der markierten Bereiche… 😉

Nun aber schnell! Das Signal sprang auf grün, der Bahnhofsvorsteher senkte die Kelle, und die Schaffnerin warf einen letzten prüfenden Blick auf den Bahnsteig. Auf die Sekunde genau setzte sich der Zug in Bewegung.

Die insgesamt zwölf Passagierwaggons vom Typ PV40 werden heute auch noch auf anderen, kommerziell betriebenen Schmalspurbahnen in Russland und der restlichen ehemaligen Sowjetunion eingesetzt. Mit nur 750 Millimetern Spurweite eignen sie sich vor allem für Bergbahnen mit engen Kurven und für weniger stark befahrene Strecken.

Die Fahrt fühlte sich trotz der niedrigen Geschwindigkeit sehr ruckelig an. Kein Wunder: Mit dem Verlegen der Gleise und den Kurvenradien hatten es die Erbauer nicht unbedingt ganz so genau genommen… 😯

Die Strecke selbst führte leider fast immer durch Wohnviertel oder dichtes Gestrüpp, daher gab es unterwegs wenig zu sehen. Der Bahnhof Pionerskaja in der Mitte wurde nur als Ausweichstelle auf der eingleisigen Strecke benutzt, ein- und aussteigen konnte man dort nicht. An der Haltestelle Sosnowyj Bor gab es einen wenige Minuten kurzen Aufenthalt.

Jedes Jahr am 9. Mai, dem Jahrestag des Sieges über das Dritte Reich, transportiert die Kindereisenbahn Gäste zu einer großen Feier an der Haltestelle Sosnowyj Bor. Dort können die Feiernden Essen aus einer Gulaschkanone probieren und an verschiedenen Wettbewerben teilnehmen. Wer sich noch nie mit dem Tag des Sieges befasst hat, sei auf den entsprechenden Artikel zu Russland verwiesen, die Lektüre lohnt sich.. 😉

Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.

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