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Ich war nach Moskau gekommen, um die Militärparade am 9. Mai zu sehen. Groß, martialisch sollte sie sein, wie in den Fernsehübertragungen. Unmengen an Soldaten, Panzern, Atomraketen, Flugzeugen und so weiter. Wie der Testlauf für die Parade in Jekaterinburg drei Tage vorher, nur hundert Mal größer. Mindestens. Die Realität war leider (an meinen Erwartungen gemessen) eine einzige Enttäuschung 🙁
Ich war den ganzen 8. Mai um den Roten Platz (Красная площадь, Krasnaja ploschtschad) „herumgeschlichen“ und hatte alles ausgekundschaftet. Die Tribünen waren schon aufgebaut, die Absperrungen lagen bereit, an vielen Orten standen auch schon uniformierte Polizisten und andere Sicherheitsleute. Ich fragte mich in Englisch und gebrochenem Russisch durch und versuchte herauszufinden, wo die Absperrungen am nächsten Tag stehen würden und wo der beste Ort für Fotos sein könnte. Laut den Plänen in den Tageszeitungen sollte die Parade auf der Tverskaya Uliza (Тверская улица) vom Smolensker Bahnhof (Москва́-Смоле́нская) in einem Außenbezirk bis vor das Auferstehungstor (Воскресенские ворота, Woskresenskije worota) direkt am Roten Platz gehen. Diese Straße wurde auch im Internet immer wieder empfohlen, und ich hatte mir schon gute Chancen ausgerechnet, irgendwo kurz vor dem Roten Platz direkt an der Straße stehen zu können.
Als ich dann am 9. Mai um sieben Uhr morgens in der Innenstadt auftauchte, standen die Absperrungen aber in einem viel weiteren Umkreis als gedacht. Viele Seitenstraßen waren auf einer Länge von über 200 Metern blockiert, und man konnte absolut nichts sehen. Außerdem war es wieder sehr kalt und wolkig. Eigentlich ist der 9.Mai in Moskau ein garantierter Sonnentag, da das Militär die Wolken mit Silberjodid abregnen lässt, aber dieses Mal war es zwecklos. Man musste schon froh sein, dass es nicht in Strömen geregnet hat.
Nach einer Stunde Fußmarsch und zweieinhalb Stunden Wartezeit waren diese drei Bilder meine besten Aufnahmen von der ganzen Parade:
Das wars. Mehr gabs nicht zu sehen. Wie man in folgendem Video sehen kann, waren wirklich nur noch Soldaten, Polizisten und Reporter auf den Straßen. Alle freien Straßen und Plätze im weiten Umkreis waren sonst menschenleer.
Die eigentliche Parade haben wir dann auch nur als Livestream über WLAN auf unseren Smartphones angeschaut 🙁
Wegen des schlechten Wetters konnte die Luftwaffe dieses Jahr leder nicht teilnehmen. Dafür waren zum ersten Mal Einheiten der Arktis-Streitkräfte dabei.
Natürlich ist die Parade auch eine Machtdemonstration, aber im Vordergrund steht die Erinnerung an den Sieg über den Nationalsozialismus, die Leistung des russischen Volkes, die Opfer und die Veteranen. Schließlich war jede russische Familie vom Krieg betroffen.
Bis zur Annexion der Krim im Jahr 2014 kamen übrigens die Regierungsoberhäupter vieler Staaten nach Russland, um an den Feiern teilzunehmen. Gerhard Schröder war 2005 dabei, Angela Merkel hatte beim 65. Jahrestag im Jahr 2010 noch einen Kranz niedergelegt. 2010 marschierten sogar US-Amerikaner, Briten und Franzosen mit:
Ich hatte also mein Ziel, den Hauptgrund für die ganze Reise, nicht erreicht. Aber ein Tag ist immer das, was man daraus macht, und die Militärparade macht nur einen kleinen Teil der Feierlichkeiten aus. Die Bevölkerung will ja schließlich auch feiern, und sie tut es mit wehenden Fahnen!
Wie man sieht, gehen die Russen mit ihrem Andenken sehr viel weniger kritisch um als die Deutschen. Es fühlte sich an, als hätte jemand die Jahresproduktion an rotem Stoff und Stalin-Porträts aufgekauft und auf Moskau geworfen. Früher sind die Veteranen auf die Straßen gegangen, aber 72 Jahre nach Kriegsende leben nur noch sehr wenige von ihnen. Seit einigen Jahren marschieren daher an ihrer Stelle Millionen Russen und werden damit Teil des „Immortal Regiment“ („Unsterbliches Regiment“). Putin marschierte dieses Jahr wieder mit einem Bild seines Vaters (welcher nahe Leningrad schwer verwundet wurde) an der Spitze.
Die wenigen noch lebenden Veteranen werfen sich für einen Tag noch mal in ihre Uniformen und lassen sich ausgiebig feiern. Ein weit verbreiteter Brauch ist es, einen Strauß Blumen zu kaufen und diese dann einzeln mit einem „спасибо“ („Danke“) an die Veteranen zu verteilen. Heutzutage gehört natürlich auch ein Selfie dazu…
Manche jungen Erwachsenen nehmen die Sache aber noch ernster und treten in historischen Kostümen auf. Alle möglichen Uniformen aus Ex-Sowjetstaaten und alle möglichen Waffengattungen waren zu sehen.
Und auch bei den Kleinsten ist der Umgang mit der Geschichte und dem Militär an diesem Tag eher… nun ja… anders als in Deutschland 😉
Nicht weniger überrascht war ich allerdings, als sogar eine große Gruppe Hare Krishna durch die Straßen tanzte!
Nach der Parade verlagern sich die Feiern traditionell in den Gorki-Park. Dort hört man dem Orchester zu, bedankt sich bei den Veteranen und lässt sich vom Militär Essen und Tee aus der Gulaschkanone servieren.
Julien Dassin, Sohn des auch in Deutschland sehr bekannten französischen Sängers Joe Dassin (Les Champs-Élysées, In Versailles in dem großen Garten, Schöne Grüße an Mama) tritt seit einiger Zeit in die Fußstapfen seines Vaters und tritt zusammen mit russischen Militärchören auf. Der Menge an Autogrammen nach schien er schon sehr beliebt zu sein!
Auch eine schöne Idee: Die Feierlichkeiten mit einer antiken Kamera auf Analogfilm filmen 🙂
Kommen wir nun zur bei russischen Kindern äußerst beliebten Sportart „Historisches Kriegsgerät in Spielzeug verwandeln“. Wahrscheinlich wäre das in Deutschland so nicht möglich…
Der Raketenwerfer Katjuscha, in Deutschland als „Stalinorgel“ bekannt, hat in Russland eine ganz besondere Bedeutung. Die Entwicklung dauerte nur eineinhalb Jahre, und nur ein paar Stunden nach dem Auftrag für die Serienfertigung fielen die deutschen Truppen in die Sowjetunion ein. Die Anzahl der gebauten Einheiten ist nicht bekannt, allerdings wurden angeblich allein vom Untertyp BM-13N-16 über 6.800 Stück ausgeliefert. Bei den Deutschen war die Stalinorgel gefürchtet, weil sie blitzschnell auftauchen, bis zu 48 Raketen abschießen und dann sofort wieder verschwinden konnte. Die Raketen erzeugten ein lautes Pfeifen, daher wohl auch „Orgel“.
Der Name stammt übrigens von dem bekannten Liebeslied Katjuscha (Катюша, „Katharinchen“). Es handelt von einem Mädchen, welches einen Brief von ihrem Freund an der Front bekommt. Das deutsche „Gegenstück“ dazu war Lili Marleen.
Aber gefeiert wurde nicht nur im Gorki-Park, sondern wirklich überall. Große Unternehmen wie die staatliche Eisenbahngesellschaft hatten vor den Bahnhöfen kleine Bühnen aufgebaut, und die Leute tanzten gerne ausgelassen auf den Straßen. Selbst im Burger King liefen den ganzen Tag alte Widerstandslieder auf Endlosschleife 🙂
Gegen Abend machte ich dann schlapp und ging zurück ins Hotel. Auf dem Roten Platz wurde kurz vor Mitternacht noch einen monumentale Theatervorstellung vorgeführt und dann ein Feuerwerk abgebrannt (Video von 2015).
Erschöpft von diesem langen Tag fiel ich ins Bett. Und weil das Wetter weiterhin schlecht war, geht es in den nächsten beiden Artikeln in den Untergrund! 🙂
Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.